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DNS II, Kapitel 5, Teil 1

Veröffentlicht von am in Buch Kapiteln

 

In die Stille der zu Eis gewordenen Welt draengt sich ein Knacken. Es mag eine Weile vorhanden gewesen sein, ohne Femina’s Aufmerksamkeit zu gewinnen, im Glauben, dass es ohnehin nur vom Eis kommen konnte. Doch nun ist es laut genug und ist auch keineswegs mehr selten oder gar nur ein einzelner Ton. Da ist ein Gemisch unterschiedlicher Geraeusche und da sind Spuren von Bewegung, fluechtig und leichten Fusses, doch genug, um ihrer Sinne habhaft zu werden. Sie vermeint Risse und Spruenge in all dem Eis wahrzunehmen, grad so, als wolle es seinen starren Griff aufgeben. 

Femina reagiert nicht. Sie kann warten. Was auch immer passiert, sie ist im Wartezimmer und das ist alles, was man da tut: warten. Und so hoert sie denn dem Knistern und Knacken zu und folgt den sich bildenden Wunden im Eis, wie sie sich ausbreiten und es mit einem Netzwerk von Tunneln und Graeben zu fragmentieren beginnen. 

Allmaehlich wird ihr klar, dass die Aenderungen im Eis nicht vom Eis verursacht werden. Das gibt nur Antwort auf Vorgaenge, die unter der Eisdecke in der kalten Stille des lichterlosen Meeres vor sich gingen. Das Meer ist naemlich nicht tot, sein Wasser ist nur kalt, und in seinen ungeahnten und unerforschlichen Tiefen hat es ein Eigenleben und seine Quellen von Waerme. In stetem Fluss und mit unbeirrtem Drang steigt diese auf, durch die Kaelte und unter schierem Druck an Kraft verlierend, in kaum wahrnehmbare winzige Blaeschen gepresst. Eines nach dem anderen, manchmal anneinander gereiht wie feine Perlenschnuere, sie finden ihren Weg nach oben, bis der eisige Plafond sie in ihrer Reise hindert. Wenn auch nur langsam, jedoch unaufhaltsam, mit neuen vereinten Kraeften, graben sie sich ihre Tunnel durch das Eis, das in seiner Dicke und Haerte schier undurchdringlich erschienen war. 

Allerdings! Das ist Femina ganz und gar nicht recht, zwingt es sie doch zurueck in ihr eigenes Leben. Sie wuerde aber lieber im Eis verharren bis es ihr den letzten Atemzug nimmt. Sie will nicht, dass das Eis sie freigibt. Sie will keine Waerme mehr. Sie will weder Licht, noch Leben. Sie will nur sterben; jetzt, nicht spaeter. Jedoch, wie sie sieht, es gibt kein Erbarmen. Der Tod kennt Mitleid nicht. Er spuckt sie aus, als sei sie eine unreife Frucht, die ihm nicht mundet. 

Das Knacken und Knistern wird lauter. Es sind jedoch andere Geraeusche, denn sie kommen vom Raum. So oeffnet sie ihre Augen und bemerkt Bewegung in der gegenueberliegenden Wand. Die ist aber keine Wand mehr, sondern ist zu einer Filmleinwand transformiert worden. Es erscheinen auch schon die ersten Bilder, zuerst verschwommen, dann schaerfer werdend, grad so, als wuerde jemand den Fokus einstellen. 

Es laeuft ein Film, mit wundervollen Bildern von Pflanzen aller Art, aufgenommen in einem riesigen Glashaus. Die Kamera streift durch die vielen verschiedenen Abteilungen und Raeumlichkeiten, die weitlaeufig und grosszuegig angelegt sind. Von der einfachen Kartoffel, bis zur exotischen Blume, alles scheint in dieser Anlage seinen Platz zu haben. Sogar Labors befinden sich hier, in denen die Gartenspezialisten am Werken sind und wo auch Forschung betrieben wird. 

Es kommt ihr bekannt vor. Allerdings war sie in vielen botanischen Gaerten gewesen und Anlagen dieser Art, denn sie liebt Pflanzen. Meistens bevorzugte sie Glashaeuser und Gaerten mit Blumen und ornamentalen Gewaechsen, obwohl das voellig ungerechtfertigt war. Doch die Schoenheit einer Orchidee betoert eben mehr, als es das schoenste Gemuese bewerkstelligen koente. Das liegt wohl daran, dass das eine Futter fuer die Seele ist, und das andere eben nur Nahrung fuer den Leib. 

Sie wird mehr und mehr sicher, dass sie dieses Treibhaus kennt. Es war ein sehr  interessanter Besuch gewesen, was vorwiegend dem Spezialisten zu verdanken gewesen war, der sie damals durch die Anlage fuehrte. Dr. Phillip Marsh! Ja, sie erinnert sich sogar an seinen Namen. Er wusste so viel, und er hoerte sich gerne reden, aber er war ein Fachmann, aus dem die Liebe zu seiner Arbeit und seinen Gewaechsen sprach. Er verstand es, ihr seine Welt zu eroeffnen, so wie sie es noch nie zuvor betrachtet hatte. Er fand in allem etwas Besonderes und seine Begeisterung war ganz und gar ansteckend gewesen. Sie mochte ihn, und wie sich im Laufe ihrer Unterhaltung herausstellte, gab es dafuer auch noch andere Gruende. 

Zwei Personen kommen ins Geschehen. Die eine Person ist tatsaechlich Phillip Marsh, die andere sie selbst. Sie sind in die Betrachtung einer Pflanze vertieft, die einzugehen drohte. Femina erinnert sich, dass dies zu einer interessanten Wende im Gespraech gefuehrt hatte. Der Film zeigt also ein Erlebnis aus einer laengst vergangenen Zeit. Begraben unter den Schichten vieler Jahre, wie ein Fossil im Sediment, wird eine in Stein geschriebene Geschichte wieder belebt, auch wenn sie in einem anderen Zeitalter statt gefunden hat. Ja, sie erinnert sich an diese Exkursion und an Phillip, den Pflanzenexperten, der, so stellte ich heraus, ein Gleichgesinnter war, kulturell gesehen. Er gehoerte naemlich der gleichen Volksgruppe an, wie sie und war nur als Auslandsexperte fuer ein bestimmtes Forschungsprojekt, an dem das Zentrum arbeitete, engagiert worden. Sie hatten also Anlass zum Feiern und fuer eine zeitlang taten sie das denn auch. Es ist allerdings lange her, und zum Feiern hat sie jetzt ganz gewiss keinen Grund. 

Der Film war bis jetzt ohne Ton gelaufen, doch nun hoert sie seine und ihre Stimme, wie sie sich ueber die Pflanze unterhalten. Bittere Enttaeuschung ueberkommt sie. Sie hatte gehofft, etwas Neues zu sehen, etwas, das ihr helfen koennte, oder wenigstens etwas, das sie vergessen liess, warum sie ueberhaupt hier in diesem Zimmer sass. Ein alter Film? Wie sollte ihr das Vergangene schon nuetzlich sein! Selbst jenes Gedaechtnis, nach dem sie sich so gesehnt hatte, ist ihr im Angesicht des wartenden Todes nicht mehr wichtig. Tot ist tot! Sie braucht weder Erinnerung, noch Gedaechtnis. Als Toter hat man schliesslich keine Beduerfnisse mehr. 

Ihr Leben, so wie sie es jetzt kennt, ist zu Ende! Auch wenn es, wie zum Hohn, gerade jetzt passiert, wo sie sich langsam damit anzufreunden begonnen hatte, und erst recht, nachdem Zwiespalt durch Zweisamkeit ersetzt, sie soetwas wie Wonne und Glueckseligkeit erleben liess. Jetzt, wo sie darueber hinwegsehen konnte, dass sie nach wie vor gefangen war, in einem Haus, das scheinbar einen Ausgang hatte, der aber keiner war, und das bloss mit ihrem Verstand spielte. Nicht nur, weil es ihr den ominoese Ausgang in die Freiheit vorgaukelte, sondern weil alles im Haus truegerische Spiele spielte. Und es hoert nicht auf, nicht einmal jetzt! Sie hat schliesslich keine Garantie, selbst wenn sie das Haus verlassen, oder sie sich den Ausgang erzwingen koennte, dass ihre Krankheit damit auch im Haus zurueckbleiben wuerde. So gesehen ist es gleichgueltig, wo sie dahinsiecht. Als Kranke ist ihr Leben nicht lebenswert, drinnen oder draussen. Nur der Tod kann das aendern. Sie braucht ganz gewiss kein Gedaechtnis mehr..... Aber...., vielleicht ist es tatsaechlich nur das Haus, das sie krank macht, und sobald sie es verlassen hat, ist sie wieder heil und gesund..... So spielt das Haus noch immer seine Spiele, nichts ist eindeutig, nichts ist gewiss. Wie kann da ein alter Film schon nuetzlich sein!

Femina hoert Phil’s Stimme: „Die Pflanze stirbt! Ich muss sie ins Labor bringen. Wir sind schliesslich ein Zentrum, wo man Forschung betreibt! Leider wird das dieser Pflanze wenig nuetzen! Ich glaube, sie ist von einer dieser Krankheiten befallen, die ohne offensichtliche Ursache auftreten und gegen die wir bis jetzt noch keine Mittel gefunden haben.“

Er inspiziert einige Blaetter ganz genau, wendet sich dann ihr zu und sieht, dass sie ein wenig verloren seiner Untersuchung beigewohnt hatte. Er faehrt daher erklaerend fort: „Falls es dich interessieren sollte, du kannst mitkommen. Mein wissenschaftliches Interesse liegt in der Erforschung von Krankheiten und deren Elimination. Leider ist die Pflanze fuer mich nicht nur ein praktisches Problem, obwohl irgendwann, da bin ich ganz sicher, werden wir ein Gegenmittel finden. Doch mich plagt die Frage, wie es moeglich ist, dass Krankheit ueberhaupt auftritt, selbst wenn alle Vorkehrungen und Vorsichtsmassnahmen und die besten Bedingungen geschaffen worden sind, die man unter derzeitigem Wissen eben schaffen kann. Daher ist die kranke Pflanze fuer mich eher ein philosophisches Problem, derzeit wenigstens, was mich mehr frustriert, als mir lieb ist. Selbst der Samen der Pflanze hatte ganz und gar keine Makel, nicht einmal im genetischen Material konnte ich einen Fehler entdecken! Und ich habe persoenlich dafuer gesorgt, dass sie optimale Bedingungen zum Aufwachsen hat! Also, wie kommt es, dass sie trotzdem erkrankt ist?!“

Er nimmt den Pflanzentopf und schickt sich an, in sein Labor zu gehen, waehrend er sie fragend ansieht. Sie hoert sich sagen, dass sie sehr interessiert waere. Aber Feminas Gedanken schweifen vom Geschehen auf der Leinwand ab.

Ja, nun ist sie selber eine kranke Pflanze, ein medizinisches und philosophisches Problem. Freilich! Sie hat keine Ahnung, ob ihre Erbanlagen oder Gene zur Verantwortung gezogen werden koennen, hat man sie doch noch nie untersucht. Wozu auch! Sie war nie wirklich krank gewesen, und da sie ohnehin keine Ahnung von ihrer Herkunft hat, waere es natuerlich moeglich, dass sie mit irgendwelchen vererbbaren Konditionen belasted war, - bloss,- ihre Krankheit ist nicht bekannt dafuer. Die faellt in einen ganz anderen Bereich, naemlich in den Bereich eines uebereifrigen Abwehrsystems, das sich gegen den eigenen Koerper richtet, selbstverstuemmelnd und selbstzerstoerend. Also ist sie, Femina, ein philosophisches Problem, oder zutreffender ausgedrueckt, ein biologisch- philosophisch- psychiatrisches Problem.  

Femina haelt inne. Ihre Gedanken sind nichts wie Karusselle, rund und rund und rund geht es. Immer diese Fragen auf die sie keine Antwort geben kann. Warum und wieso? Warum gerade ich, warum gerade jetzt, warum ueberhaupt? Und ist es wirklich nur das Haus, das sie krank macht? Sie sieht ein, dass das keineswegs die einzige Ursache sein kann. Es ist schliesslich ihr Koerper! Nicht alles kann daher vom Haus abhaengen! Um diesem Karussel zu entkommen, wendet sie sich lieber dem Geschehen auf der Leinwand zu. 

Sie passieren ein Labor, voll von Geraeten und Glasbehaeltern, Instrumenten und Mikroskopen. Mehrere Weisskittel sind in ihre Arbeiten vertieft und haben keinen Blick fuer sie beide. In einer Nische mit vielen Regalen bemerkt sie eine Anzahl von Toepfen mit Pflanzen, die sie noch nie gesehen hat. Manche scheinen eher merkwuerdig, ja sogar deformiert, zu sein. Sie weiss nicht, was sie davon halten sollte, aber Phil sieht ihren Blick und klaert sie auf: „Experimente. Versuche, neue Wege zu gehen. Es ist nicht mein Fachgebiet, und ehrlich gesagt, ich bin nicht unbedingt davon begeistert. Ein Kollege ist der Leiter dieser Abteilung.“

„Heisst das, dass du nicht weisst, was er macht? Findest du es gerechtfertigt, ich meine moralisch gerechtfertigt, was er tut? Manche der Ergebnisse schauen eher erschreckend aus,“ fragt sie perplexed.

Sie muss wohl eine Wunde Stelle beruehrt haben, denn er erwidert kuehl: „Es gibt keine moralische Frage, wenn man Forschung betreibt! Letztlich ist das Ergebnis das Wichtigste. Man kann immer eine moralische Rechtfertigung finden. Und genau betrachtet ist jede Art von Forschung unmoralisch. Moral ist eine Frage von Gut und Boese, keine Frage der Wissenschaft. Der Forschende ist, generell gesehen, immer unmoralisch, denn die Moral beurteilt das Bestehende, das er aber durch seine Forschung in Frage stellt und zu veraendern sucht. Selbst wenn seine Forschung kein positives Ergebnis ergab, so ist das kein Grund, es moralisch zu bewerten. Es heisst nur, dass der gegangene Weg nicht erfolgreich war und dass eben ein anderer Weg gefunden werden muss. Nein, nein! Moral ist nicht das Anliegen der Wissenschaft.“

Sie fand das ganz und gar nicht in Ordnung. Sie hoert sich sagen, dass sie das schrecklich faende und dass sie sehr wohl gemerkt habe, dass er sich „fuer Leben“ einsetzte, nicht gegen es. Findet er denn, dass im Namen der Forschung alles gerechtfertigt sei?

„Es ist ein Dilemma“, gibt er zu. „Ich kann es nicht wegleugnen, oder gar aendern. Es ist wahrscheinlich eine rein persoenliche Angelegenheit, naemlich was das eigene Gewissen dazu zu sagen hat. Denn auch wenn es die ethischen Richtlinien gibt, nicht jeder Forscher wird sich daran halten wollen. Und es ist natuerlich auch eine Frage der oeffentlichen gesellschaftlichen Moral, was man der Forschung erlaubt, zu tun, oder was man sich von ihr erwartet, oder, womit man sie auch beauftragt.“

Er deutet auf die welke Pflanze: „Mich schmerzt es grad so gut, dass ich kein Gegenmittel fuer ihre Krankheit habe, als es mich schmerzt die deformierten Pflanzen von nebenan zu sehen. Und doch koennen diese unter Umstaenden jenes Resultat bringen, das ich nur zu gerne jetzt zur Verfuegung haette, um mein armes Gewaechs zu retten.“

Ihre Aufmerksamkeit laesst wieder nach. Das Fuer und Wider von Moral ist nicht der Grund, warum sie hier in diesem Zimmer sitzt. Sie hoert die Stimmen weiter argumentieren. Hin und wieder hoert sie Worte wie ‚das Gute, oder das Ueble, Verantwortungslose, sogar Rettung der Menschheit, und Nutzen zum Wohle der Gesellschaft,‘ es scheint eine recht weitlaeufige Unterhaltung geworden zu sein. Allerdings! Im Augenblick waere sie sehr dankbar, koennte die Wissenschaft ihre Krankheit eliminieren. Und sie wuerde nicht fragen, wie sie zu den Mitteln gekommen ist. Sie ist also nicht moralischer als Phil oder jene Wissenschaftler, die sich ueber ethische Prinzipien hinwegsetzen. Und sie nicht besser, nur weil sie ihnen die Arbeit ueberlaesst, aber sehr wohl von den Ergebnissen profitiert. Tatsaechlich und genau genommen, ist das Heute aus der ‚Unmoral‘ von gestern entstanden und die Moral von heute, hat morgen keine Bedeutung mehr. Sie muss zugeben, dass die Diskussion ueber Moral sehr wohl ihre Aufmerksamkeit verdient und sei es nur, um sich ihre Sterbestunde zu erleichtern, in dem sie ‚reinen Tisch‘ mit sich selber macht.

Auf der Leinwand ist eine andere Person aufgetaucht, einer der Mitarbeiter Phil’s. Er bekommt den Auftrag, die welke Pflanze in Obhut zu nehmen, das heisst, sie zu beobachten und Untersuchungen anzustellen, um alles und jedes noch so winzige Detail zu notieren und mit anderen Werten zu vergleichen. Vielleicht gibt es einen Hinweis, einen Fingerzeig, etwas Unerwartetes. Auch nur das Hinzufuegen dieser Daten zu den alten, ist wertvoll genug, um die ganze Maschinerie der Forschung in Gang zu setzen, denn selbst das sinnlosest erscheinende Resultat ist in seiner Gesamtheit wichtig. 

Femina spuert die harte Lehne in ihrem Ruecken. Ja, es ist eine unbequeme Bank, aber noch unnachgiebiger ist ihr Verstand. Sie wird sich bewusst, dass ihre einstmals vertretene Ansicht ueber diverse wissenschaftliche Projekte nicht mehr gilt. Wie oft hatte sie sich ueber manche dieser Projekte lustig gemacht oder hat sie abgelehnt oder sich auch aufgeregt. Wie oft glaubte sie, Gelder seien besser humanen Zwecken zuzufuehren, als unnoetige Forschungsideen zu unterstuetzen oder gar grausame Experimente an Tieren zu finanzieren. Freilich! Das Anliegen human zu sein, hat sie auch jetzt noch, das aendert sich nicht, nur hat sich ihre Perspektive voellig geaendert und schlimmer noch, sie muss nun das Dilemma wahrhaben, von dem sich Phil ebenso wenig distanzieren konnte, er als Mann der Wissenschaft, sie als Kranke. Unendliche Traurigkeit steigt in ihr hoch. Sie ist nicht sicher, wem ihre Traenen gelten. In ihnen liegt jedenfalls ein grenzenloses Mitleid und tiefe Dankbarkeit fuer alles Leben, das ihretwegen sein eigenes verloren hat. 

Sie wetzt unruhig auf der Bank hin und her. Die Bank wird keineswegs bequemer, und die Traenen rollen weiter, denn Femina ist voll von ihnen. So lenkt sie denn ihre Aufmerksamkeit wieder der Leinwand zu. 

Sie passieren die Samen- und Bepflanzungsabteilung, deren Vorstand Phil ist. Voll mit Toepfen und Behaeltern, auf dem Boden, in Regalen, von den Waenden und Balken haengend und mit niedlichen Beeten dazwischen, ueberall gibt es neue Setzlinge und frische junge Pflanzen. Femina’s Augen tauchen in das tiefe Gruen. Es ist, als waere selbst das Licht, ja die Luft von gruener Farbe. Sie vermeint, sogar hier und jetzt in diesem Augenblick, den frischen erdigen Geruch von damals einzuatmen. 

Er fuehrt sie in ein Nebenzimmer, das eigentlich sein Buero ist, aber selbst da hat er ueberall Glaeser und kleine Flaschen und Traeger, gefuellt mit verschiedenen Fluessigkeiten, Erdgemischen und Samen, alles fein saeuberlich beschriftet und geordnet. Der Rest des Raumes ist voll mit Buechern, Zeitschriften und Akten, aber alles in peinlichster in Ordnung. Wahrscheinlich findet er selbst im Dunkeln immer alles was er braucht. Mag sein, in dem seine Arbeit Systematik und Uebersicht erfordert, dass es seine Persoenlichkeit praegt, doch wahrscheinlicher ist, dass nur organisierte Menschen fuer diese Art Arbeit geeignet sind. Ein Chaote koennte wohl auch ein Treibhaus besitzen, nie aber Forscher sein. Femina erinnert sich, dass sie Phil’s Ordnungsliebe sympathisch gefunden hatte. Sie mochte seine Sachlichkeit. Er war naemlich kein unnuetzer Pedant und schon gar kein ‚verwirrter Professor‘ oder nur borniert und in sich selbst vernarrt. 

Sie hoert sich fragen, ob er die Samen selektiere, die er verwendet.

„Nein“, sagt er. „Ich sehe sie mir an und notiere ihre Merkmale und Anlagen, aber ich mache generell keine Auslese. Ich bin naemlich der Meinung, dass es prinzipiel weder gute noch schlechte Samen gibt, sondern nur gute oder schlechte Bedingungen, die das Gedeihen foerdern oder verhindern. Natuerlich, wenn ein offensichtlicher Defekt im Genmaterial vorhanden ist, ist das Ergebnis vielleicht nicht das beste, aber selbst dann, ist es nicht immer eine aussichtslose Angelegenheit. Wir haben festgestellt, dass Anlagen nicht unbedingt eine Voraussage zulassen, oder das Endresultat bestimmen. Groesse, Schoenheit oder makellose Innenstruktur ist keine Garantie fuer spaetere Qualitaet. Umgekehrt, ein weniger vollkommener Samen, kann hoechst eindrucksvolle Ergebnisse bringen. Es ist gewisserweise sehr ueberraschend, denn manchmal habe ich Samen zum Wachsen gebracht, ohne grosse Erwartungen zu haben. Und dann wieder, gibt es die Enttaeuschungen, so wie eben die welke Pflanze, die wir gerade gesehen haben. In ihrem Falle bleiben offene Fragen. Was ist passiert? War es Anlage, oder schlechte Umweltbedingungen? Beides schien optimal!“

In die nachfolgende Stille hoert sie sich sagen: „Aber du glaubst doch, dass sie einer Krankheit zum Opfer gefallen ist. Das liegt doch ausserhalb deiner, ja fast aller Kontrolle!“

Er schuettelt vehement seinen Kopf: „Das glaube ich eben nicht! Ich muss mich damit nur zufrieden geben. Ich habe keine nennenswerten Beweise, mit denen ich aufwarten koennte, obwohl ich davon ueberzeugt bin, dass es Krankheit nur deshalb gibt, weil man ihre Ursache nicht kennt. Sobald man diese aber kennt, kann man optimale Bedingungen schaffen, die das Auftreten der Krankheit verhindern, oder zumindest kann man dann die Mittel finden, die den Kranken heilen, oder wenigstens den Krankheitsverlauf beeinflussen. Elimination von Krankheit mag natuerlich auf verschiedenen Wegen erreicht werden, und mag eine Kombination von Massnahmen erfordern, aber es waere unsinnig zu behaupten, dass es immer Krankheit geben wird, nur weil es immer Krankheiten gegeben hat.“

Femina erinnert sich, dass sie damals eher Mitleid mit ihm hatte, als dass sie ihm zustimmen konnte. Sie fand, dass er einen feinen Grat wanderte, eine solche Ansicht zu vertreten. Ohne wissenschaftliche Daten und Beweise war er leichte Beute fuer die Bluthunde, die Idealisten wie ihn, verfolgen, und in Stuecke reissen, sobald sie ihrer habhaft werden. Bestenfalls hielt ihn die Gesellschaft fuer verrueckt, und die Kollegen fuer einen harmlosen Traeumer. Er konnte wahrscheinlich nur ueberleben, weil jeder wusste, dass sie ihm fachlich nicht gewachsen waren.

Ein Mitarbeiter erscheint. „Wir haben einen Schnitt angefertigt,“ sagt er zu Phil, waehrend er zum Mikroskop geht und den mitgebrachten Glasstreifen einschiebt. Die beiden Maenner beugen sich ueber das Geraet und unterhalten sich angeregt. Schliesslich wendet sich Phil ihr zu.

„Es ist, wie ich angenommen habe. Schau hinein und ich werde dir dann zum Vergleich den Schnitt einer gesunden Struktur einlegen.“ Waehrend sie seiner Aufforderung folgt, faehrt er fort: „Siehst du die Unebenheiten in den Zellmembranen? Anstatt glatter Waende fehlen Segmente. Das ist der Grund, warum die betroffenen Zellen keinen normalen Stoffwechsel mehr haben und langsam aber sicher absterben.“ Er schiebt den anderen Schnitt ein. Sie nickt zustimmend. 

Er schuettelt nur resigniert den Kopf und wiederholt sich: „Wie ist es bloss moeglich, dass diese Krankheit auftreten konnte?! Sag ja nicht Schicksal!“

Seine Stimme war ploetzlich scharf und bestimmt. Das kam voellig unerwartet.

Sie hoert sich sagen: „Das habe ich garnicht in Betracht gezogen. Aber du musst zugegeben, es ist ein Argument. Wie ich sehe, hat man dir diese Antwort schon oft genug als Loesung angeboten, nicht wahr?“

Er nickt. „Wenn ich mich damit zufrieden geben wuerde, waere ich nicht Forscher sondern Priester, oder was auch immer.“

Er schiebt ihr einen Stuhl zu und sie setzen sich. Der Mitarbeiter brachte auf Phil’s Bitte eine Kanne Tee und Tassen. Er setzt sich zu ihnen. Offensichtlich war ihm die Gelegenheit eine kleine Arbeitspause einlegen zu koennen, ebenfalls willkommen.

Es war Femina, die die Unterhaltung begann: „Ich glaube, es wird immer Kranke geben, und immer Krankheiten, egal wie die Bedingungen sind. Du, ich und andere moegen Krankheit vielleicht nicht als Schicksal sehen, aber fuer mich ist Krankheit der Ausdruck einer Situation. Es mag nur einen einzelnen Organismus betreffen, oder mehrere. Das inkludiert die Menschheit im weiteren Sinne. Zum Beispiel kann Krankheit der Ausdruck einer Epoche und deren Gesellschaft sein. Freilich, in jedem Falle entsteht sie auf dem Boden unguenstiger Bedingungen, wie die Pest im Mittelalter, oder die Tuberkulose, die vorwiegend und haufenweise waehrend der industriellen Revolution auftrat, weil die Staedte fuer die anwachsende Bevoelkerung weder genug, noch gesunde Quartiere hatte. Oder in unseren Zeiten, wo Krebs, Kreislauf-, und andere SYSTEM-erkrankungen massenweise auftreten. Ich glaube, Krankheit ist nicht nur ein Zeichen eines fehlerhaft arbeitenden Organismus, sondern ist auch ein Zeichen einer fehlerhaft arbeitenden Gesellschaft, in diesem Sinne und in jedem Fall, eben ein Zeichen kranker Systeme. Krankheit ist Warnung schlechthin, naemlich, dass die Harmonie im Koerper, oder, in der Gesellschaft gestoert ist und dass man diese wieder herstellen muss, um die Krankheit los zu werden. Darum hat man ja auch den Schmerz. Der ist die reinste Sirene. Der Leidende wird einfach gezwungen, etwas zu unternehmen. Ich bin durchaus und sehr wohl deiner Meinung, Phil, dass man Krankheit unmoeglich macht, wenn der Organismus in idealen Bedingungen lebt. Nur! Wann ist das schon der Fall! Ich sehe zumindest drei Gebiete, in denen sich Stoerungen entwickeln koennen, wobei diese natuerlich in Beziehung zueinander stehen. So kann in der Umwelt, oder diese selber, die Ursache sein, die einen Koerper krank macht; oder das Problem liegt im Koerper; oder in der Zone, wo der Austausch zwischen diesen beiden erfolgt und gestoert ist. Aber der schwaechste Punkt ist fuer mich der Mensch selber. Zu oft habe ich gesehen, dass Menschen sich krank machen, bewusst oder unbewusst. Und wie oft habe ich gesehen, was der Lebenswille des Einzelnen bewirken kann. Kranke, denen man kaum eine Chance auf Ueberleben gibt, schaffen es. Andere, die durchaus Chancen auf Genesung haben, sterben entgegen aller Erwartungen.“ Sie haelt kurz inne, um gleich fortzufahren: - „Freilich, wie das mit Pflanzen ist, da habe ich keine Ahnung. In diesem Bereich bist schliesslich du der Experte. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass eine Pflanze sich selber krank machen koennte.“ 

Femina wendet ihren Kopf von der Leinwand ab. Wuerde sie heute diese Diskussion haben, - welch ein Unterschied waere das! Theorie und Praxis! Welten liegen dazwischen, - und so voll gepackt mit Leid und Verzweiflung. Wie leicht laesst sich’s ueber Dinge reden, wenn man davon nicht betroffen ist. 

Aber sie ist ganz gewiss froh, auf etwas hingewiesen worden zu sein, das Sinn ergibt und einer genauen Betrachtung bedarf. Sie muss ihre eigene externe und interne Welt einer Untersuchung unterziehen, vorallem dort, wo sie aufeinander treffen und es zu „Grenzstreitigkeiten“ kommen kann, grad so, als seien zwei Kulturen nicht faehig, friedlich miteinander zu leben.  

D  a  r  u  m   sitzt sie hier in diesem Zimmer. Es ist ein Warteraum. Es ist nicht ihr Sterbezimmer. Zum Teufel auch mit dem Haus! Mag es seine Spiele spielen wie es will! Nichts ist mehr wichtig! Das Hier und das Jetzt ist alles was zaehlt. Jetzt sitzt sie hier drin, um zu reflektieren. Und, sollte es nach wie vor die beste Loesung sein, der Tod kommt bestimmt, selbst wenn sie es ist, die die Sense schwingt.   

  

 

    

 

        

 

 

 

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Kommentare

  • Ingrid Hashish-Hematyar
    Ingrid Hashish-Hematyar Dienstag, 05 Mai 2015

    Endlich, hab mich so gefreut auf´s Lesen. So spannend!
    In Deiner Erzählung ist so viel Angst, Verzeiflung, manchmal sogar Resignation zu spüren, aber auch so viel Hoffnung! Es gibt sogar mir Kraft! Lass mich bitte weiter an Deinen Gedanken und Gefühlen teilhaben.
    Alles Liebe - eine Freundin

  • Femina
    Femina Mittwoch, 06 Mai 2015

    Danke liebe Freundin fuer Deine Zeilen. Es ist ermutigend zu wissen, dass Du an meiner Reise Anteil nimmst, auch wenn die Pausen zwischen den Beitraegen sehr lange sind und das Lesen recht muehselig macht. Ich wuenschte, ich koennte das aendern.

    LG, Femina

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