‘Ob einem die Kinder leid tun sollten, die in solch ungewöhnlichen Bedingungen leben? Diese Frage stellen natürlich nur jene, die glauben, dass ihre Art Kinder gross zu ziehen die richtige Art ist. Sozieternas sind viel weniger kategorisch. Das einzige worauf sie bestehen ist, dass jeder Sozieterna für das Wohl aller Kinder verantwortlich ist, ob sie die eigenen sind oder nicht. Die beiden Frauen würden niemals etwas anderes in Betracht ziehen.
Kinder sind allerdings für Tina und Femina immer ein Thema, weil die beiden so unterschiedliche Meinungen darüber haben. Tina ist stets darauf aus zu testen, ob ihre Freundin nicht doch bereit ist ihren Standpunkt aufzugeben. Früher gab es heftigste Diskussionen. Femina behauptete sogar in einem dieser Wortgefechte , dass Tina die Kleine ohnehin nur habe, weil es ihrem Eigennutz diente. Freilich das war der Versuch unfairer Taktik, sozusagen der Schlag unter die Gürtellinie, aber Tina blieb ihr nichts schuldig. Femina’s Kinderlosigkeit sei schliesslich auch nichts anderes. Der Streit endete mit Gelächter und wurde, wie immer, auf ein andermal verschoben.
Das Thema Kinder ist nicht nur aktuell weil Femina kinderlos ist, sondern erst recht, wenn sich die beiden Gedanken um die Zukunft machen. Darum liegt es auch heute wieder in der Luft, denn Femina hat die Nase voll von allem, während Tina entspannt ist und Optimismus ausstrahlt.
Sie haben eine Weile geschwiegen, sind in ihren Gedanken. Hin und wieder mischen sich alltägliche Geräusche in die Stille, ein Klirren der Teeschalen, ein langer Atem, das Klicken eines Feuerzeuges.
Femina steht auf um eine Platte aufzulegen. Sie hat eine Ansammlung von diesen, aus alten Zeiten, die zum Teil ziemlichen Seltenheitswert haben. ‚Karma‘, das ist es wonach ihr jetzt zumute ist. Die Musik wirkt sofort, - ein Zaubermittel! All ihre Unlustgefühle kann sie der Musik in den Rachen werfen. Musik schluckt diese einfach hinweg,- als Klänge erscheinen sie dann wieder und schlüpfen so zurück ins Gehirn. Aber die Klänge lassen die Membranen anders schwingen wie es zum Beispiel Aggression tut. Musik ein Zaubermittel? Gewiss, ist sie doch ein Transformer, und das ist garnicht so neu.
Femina blinzelt zu ihrer Freundin rüber. Die ist grade auf mütterlich drauf, denn sie sieht nach der Uhr, dann zur Kleinen, die ohnehin selig schlummert, und bleibt schliesslich an Femina hängen. Femina verzieht spöttisch ihren Mund. Das Thema Kinder steht zur Debatte, aber Tina gibt sich der Erinnerung hin: „Weisst du noch wie wir uns eigennützig beschimpft haben? Lächerlich nicht wahr, denn wir beide s i n d eigennützig. Worum geht es denn wirklich? Ums Rechthaben? Wer moralisch besser da steht? Um Bekehrung?“
„Ach, Tina Herzchen“, stimmt Femina ihr hocherfreut zu, “ich bin zwar der Meinung, dass unsere Kinder es nicht leicht haben, aber ich kann andererseits sehr wohl sehen, wie gut es ihnen geht. Sei’s drum! Und dir steht die Mütterlichkeit äusserst gut.“
„Dir auch“, erwidert ihre Freundin und grinst unverschämt.
„Ich bin nicht mütterlich!“ protestiert Femina. Aber Tina verdreht nur ihre Augen und seufzt: „Ach was,“ sagt sie dann, „du bist doch die reinste Glucke, die man sich vorstellen kann.“
Femina antworted mit Achselzucken. Sie hört auf die Musik. Leon Thomas verschafft sich Gehör:
„The creator has a master plan, peace and happiness for every man…………..”
Femina hört aufmerksam zu. Ihre Augen wandern nach irgendwo. Dort sind die Träume leer, denn dort lebt der Traum und braucht sich nicht zu träumen.
„Ga, ga, ga, gaaaa...“, sie kommt zurück von der Ferne, versucht ein Huhn nachzuahmen, schlägt dabei mit angewinkelten Armen, als hätte sie Flügel. Tina schmunzelt und Femina hört auf mit dem Gegacker, schaut Tina stirnrunzelnd an bis sie beide schallend lachen. So gegensätzlich, so einträchtig sind sie. Sozieterna macht es möglich, kein anderes System kann Opposition so friedlich vereinen. Da sitzen sich zwei Frauen gegenüber, davon meint eine, Kinderkriegen und –haben sei eine Bereicherung ihrer Existenz. Die andere findet es ein Hindernis. Da sagt die eine, wie schön es sei, neues Leben zu schaffen. Die andere findet, dass nicht einmal das Bestehende gut genug ist. Tina redet von ‚Kreativität‘, Femina von ‚Verpflichtung‘. Der Same sei bereits ein Geschenk! Dabei fängt spätestens dort die Forderung an! Schwangerschaft gibt? Schwangerschaft nimmt! Und so geht das weiter bis zur letzten Konsequenz, die mit aufkündigen der Freundschaft oder gar mit Kampf enden könnte. Hier wird schliesslich SEIN oder NICHTSEIN zur Konfrontation gebracht. Aber Tina und Femina bekriegen sich nicht, sondern lachen miteinander. Sie brauchen sich nicht nach einer übergeordneten Moral zu richten. In Sozieterna richtet man sich nach dem Grundsatz: Wenn schon Leben, dann im Sinne von Bewusstsein. Und darin hat die ganze Vielfalt Platz. Gegensätzliches schliesst sich nicht aus, sondern ein. Das Yin und Yang in Schwarz-Weiss ist nicht umsonst ein Emblem im Wappen ihrer Gesellschaft.
„Weisst du“, sagt Femina, „manchmal überwältigt mich das Grauen, wie die geistige Entwicklung der Menschheit dem einzelnen Menschen davonläuft. Sieht aus, als könnte er seine eigene Potenz nicht erfassen, kann aber die Geister nicht mehr los werden, die er gerufen hat. Ich habe es so satt, in den Wirbel jener hineingezogen zu werden, die wirklich n i c h t wissen, w a s sie tun. Von mir aus braucht die Geschichte nicht weiterzugehen, - zumindest nicht auf die herkömmliche Art. Mir tun am meisten die Kinder leid.“
„Meine liebe Femina, ich weiss,“ antwortet Tina gefühlvoll, „ich verstehe dich nur zu gut! Ich sorge mich schliesslich auch. Aber du wirst sehen, - es wird, - es muss anders werden! Die grosse Ablöse liegt in der Luft. Du kannst tatsächlich den Umschwung, ja den Umbruch spüren! Das totale Chaos wird sich neu formieren. Kein Grund zum pessimistisch sein! Natürlich verstehe ich, dass du deprimiert sein musst, bei dem Druck, dem Du im Moment ausgesetzt bist. Aber lass dich nicht irritieren. Die Masse ist nun einmal träge. Es bedarf der Kräfte sie zu rühren und die Kräfte bedürfen des Momentum. Wir alle unterliegen diesem Gesetz. Es ist das Einmaleins unseres Daseins. Erlaube mir, dich daran zu erinnern.“
Femina zuckt mit den Schultern. „Es ödet mich einfach an zu warten! Und die ignoranten Leute rund um mich gehen mir total auf die Nerven. Da träumen sie von Freiheit, aber den Freidenker hassen sie. Tatsächlich haben sie Angst vor der Freiheit, schon gar, sie zu leben. Ich meine, verstehen kann ich es ja, aber mögen tu ich’s nicht. Dabei wäre ich sogar bereit, den Ignoranten ihre Angst und ihr Unwissen, ja ihre Unfähigkeit zu verzeihen. Doch sie sind so selbstbesessen, und mich mit ihren Konflikten beladen zu wollen, das geht zu weit. Ihren Mist sollen sie sich behalten. Ich bin schliesslich nicht die Müllabfuhr, die’s schliesslich auch nur gibt, weil keiner seinen eigenen Dreck wegputzt. Es reicht, dass ich diesen Mist zur Kenntnis nehmen muss, aber drum bleibt mir aber auch garnichts anderes übrig wie mich baldigst davon zu machen.“
Tina gluckst vergnüglich und meint, dass sie ‚Arbeitsplätze‘ wegrationalisiere. Ausserdem war von den Kindern die Rede und das stünde auf einem anderen Blatt Papier. Femina schüttelt den Kopf. Diese Dinge stehen in Beziehung zueinander. Während Femina sich für den Genocid entscheidet ist Tina für die Genese. Die Zukunft kann weitergehen auch ohne ihr Zutun. Tina gleicht die Bilanz aus.
„The creator has a master plan.........., love and peace for every man…….”
“ Es ist höchste Zeit, der Urangst den Schrecken zu nehmen. Sie bedarf schon längst einer Analyse“, sagt sie plötzlich und ganz unvermittelt. Neuerliches Schweigen.‘ Von Angst besetzt sein, heisst schliesslich unfrei sein, jedenfalls dort, wo die Angst sitzt‘. Sie folgt ihren Gedanken, die offensichtlich ihren eigenen Weg gehen.
„Ich kann nicht verhindern, dass die Unfreiheit anderer, meine Freiheit gefährdet.“ Sie zitiert: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt.“ Ungewöhnliches ist verdächtig, nur das Normale bestimmt den Lebenszweck! Ich kann es einfach nicht lassen! Ich muss mich für die Freiheit einsetzen! Allerdings, ausser unseren Leuten versteht kaum jemand, was damit gemeint ist. Leider bin ich aber auch nicht für den Heldentod. Folglich, Flucht ist die einzige Alternative, die mir vernünftig erscheint!“
Tina nickt und meint abschätzig: „Männerwelt! Das Patriarchat rast auf den Abgrund zu, und alles rast mit! Du bist dir hoffentlich klar darüber, was dein Abzug bedeutet? Schliesslich liegt es jetzt an uns Frauen zu handeln. Wir Frauen müssen für die Freiheit kämpfen! Wir Frauen müssen das Steuer herumreissen! Wir müssen die Geschicke in die Hand nehmen! Du weisst wie wenig Chancen wir sonst haben......“
Femina zuckt mit den Schultern: „Als Frauen? So gut wie gar keine! Schau dir doch das Schicksal der Frauen in dieser Welt an! Frauen sind zum Scheitern verurteilt, - bevor sie denken dürfen, bringt man sie auch schon um. Na und wir, die Sozieterna, machen das Kraut auch nicht fett. Schade? Nicht unbedingt! Unfähiges stirbt. Warum sollte man über die Menschheit weinen? Freilich, dass alle mitgefangen ist durchaus ein Grund. Leider kann ich die Dekandenz nicht teilen, mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Ja, ja, die Masse ist träge, aber es dient nun mehr der Entschuldigung als recht ist. Faulheit ist eher zutreffend, und die wird zur Fäulnis. Zudem habe ich herausgefunden, dass die Zeit über mich verfügt. Ich muss daher reagieren. Zur Zeit jedenfalls bin ich meiner Nomadennatur total dankbar. In ihr liegt meine Stabilität und im Genocid meine Antwort. Was uns zwei betrifft, ich bin der Schwarzseher, du die Weissmalerin.“
Tina lacht vergnügt und streckt ihr Kreuz durch. „Ganz meine Meinung“, sagt sie. Femina wartet ein wenig. Nachdem sie beim Thema der Geschlechter gelandet sind, überrascht es sie, dass ihre Freunde keinen weiteren Einwand hat und sich nicht einmal nach Femina’s Liebesleben erkundigt, zumal es zur Aufheiterung beitragen könnte. Eine schöne Liebesaffaire bedeutet schliesslich Lust statt Frust. Wahrscheinlich glaubt sie, ihre Freundin hat nichts dergleichen zu berichten, denn sie ziehen heute schliesslich einhellig über die Männer her. Das ist sonst selten der Fall. Tina mag zwar Männer nur sehr bedingt, einschliesslich Sozieternas. Denen gibt sie zumindest den Bonus, dass sie, ihrer Meinung nach, nicht schaden und für die Aufzucht der Kinder notwendig sind. Anders ist es mit Femina. Sie mag Männer. Sie bevorzugt Sozieternas, aber sie ist keineswegs den anderen abgeneigt, speziell wenn sie ihr Interesse wecken, welcher Art auch immer. Die beiden finden Zweigeschlechtlichkeit absolut interessant, nicht nur, weil sich diese nun mal nicht verleugnen lässt, sondern weil es eine Grundsatzdiskussion ist. Für Femina ist es obendrein noch Vergnügen. Offensichtlich steht der vergnügliche Aspekt dieses Gegenstandes heute nicht im Programm. Femina ist viel zu sehr mit ihren Frustrationen beschäftigt und beim Thema Freiheit stecken geblieben. Sie beendet daher ihren kurzen gedanklichen Seitensprung mit einem bekannten Zitat: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“
Doch die Quelle fliesst auch. „Sie ist die Mutter aller Dinge!“