Femina findet es nicht schwierig, sich in dieser fremden Welt zurecht zu finden, vorallem da sie sich schnellsten die Sprache aneignete. Obendrein geniesst sie es, ihr Gehirn mit all den neuen Informationen vollzustopfen. Es geht ihr so gut, dass sie nachlaessig wird, ihrer nach wie vor bestehenden Amnesie jene notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, wie sie sich vorgenommen hatte. Aber es bleibt ohnehin nicht so.
Allmaehlich, und ganz unbemerkt, beginnt sich der glueckhafte Zustand zu veraendern. Es ist niemandes Schuld, eher zwangslaeufiges Geschehen. Nicht alle Erinnerung hat sie verlassen! Das zeigt sich immer dann, wenn es zu Konfrontationen zwischen ihrer eigenen Meinung und der der Umwelt kommt. Zuerst sind das nur kleine Angelegenheiten, die sie kaum wahrnimmt und weil sie ihr nicht wichtig erscheinen. Die Vorkommnisse haeufen sich allerdings und bald hegt sie den Verdacht, in eine Scheinwelt oder in eine Welt des Betruges geraten zu sein. Sie stellt fest, dass sie eigentlich kaum jemanden vertrauen kann, denn viele Leute reden anders als sie denken oder geben vor, was zu sein, das sie nicht sind, oder behaupten etwas zu wissen, wovon sie kaum oder gar keine Ahnung haben. Tatsaechlich, so scheint es, kann sie nur ihren engsten Freunden trauen. Na und soviele sind das ja nicht.
Und dann passiert etwas Unerhoertes. Dimitri und Pia ueberbringen die Hiobsbotschaft und sind selbst sehr verstoert. Ihre beiden besten Freunde, das aeltere Paerchen, die Femina besonders lieb gewonnen hatte, sind verschwunden. Ploetzlich, und ohne Abschied zu nehmen! Sie sind einfach fort, und keiner weiss, wohin sie gegangen sind, oder gar warum.
Femina eilt mit fliegenden Schritten dahin. Sie flieht zu ihrem Lieblingsplatz, einem Teich, der, friedlich eingebettet in den Huegeln, nahe ihrer Wohnstaette liegt. Nur sehr selten wird er von Leuten besucht, schon garnicht an einem Arbeitstag. Er ist somit der richtige Platz, an dem sie ungestoert sein wird, um in Ruhe nachdenken zu koennen. Es ist genug geredet worden und Dimitri hat obendrein noch Pia zu troesten. Femina ist ebenso traurig, aber noch mehr verwirrt. Luegen! Luegen! Unwahrheit! Nichts macht Sinn! Sie haette schon laengst nachdenken sollen, nicht erst jetzt! Aber war sie interessiert gewesen? Nein! Sie hatte nur an ihren vollen Bauch gedacht!
Sie erreicht die kleine Bank, die einen besonders schoenen Blick auf den Teich gewaehrt. Aufatmend laesst sie sich nieder. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Es ist einfach nicht wahr, dass Menschen spurlos verschwinden koennen und keiner weiss wohin oder weshalb! Da sind nun zwei ihrer besten Freunde einfach abhanden gekommen, und keiner stellt Fragen? Sie werden zwar betrauert, Pia hat staendig die Augen voll mit Traenen, aber das ist es auch schon. Man hat sie aufgeklaert, dass dies nicht aussergewoehnlich sei. Die Fragen, die Femina diesbezueglich stellte, brachten nur stereotype Antworten. Selbst die, die ehrlich versuchten auf sie einzugehen, zuckten letztendlich mit den Schultern, in Hilflosigkeit, Pia und Dimitri miteingeschlossen.
Sie hebt einen flachen Stein auf, wirft ihn ueber das Wasser. Zweimal huepft er ueber die glatte Oberflaeche, bevor er beim dritten Mal versinkt. Sie ist wuetend, jawohl! Will man sie denn fuer bloed verkaufen?! Es gibt fuer alles eine Ursache, oder wenigstens versucht man diese finden, wenn man sie nicht kennt. Aber wie hat Dimitri gesagt? „Die Menschen kommen und sie gehen. Keiner weiss Bescheid!“ ‚Das sei doch mit ihr genauso gewesen!‘ So hat sie die Sache allerdings noch nicht betrachtet.
„Ihr habt mich doch erwartet! Ihr muesst doch e t w a s gewusst haben!“ hatte sie weiter gebohrt.
„Wir haben angesucht, und du bist uns zugeteilt worden.“
Das war keine aufschlussreiche Antwort. Sie war nicht zufrieden damit.
„ W e r hat w a s zugeteilt?! Wer oder was ist der grosse Unbekannte, der da gibt und der da nimmt?“
Ihres Wissens ist sie von niemandem verschickt und niemandem zugeteilt worden! Auch wenn sie ein riesiges Loch in ihrem Hirn hat, es ist ausgeschlossen, dass sie wie ein Sklave gelebt haben sollte und es entspricht auch ganz und garnicht den juengsten Erinnerungen, die ihr sehr wohl zur Verfuegung stehen.
Darauf haben die beiden nur einsilbig geantwortet, dabei den Kopf geschuettelt und mit den Schultern gezuckt. ‚Schicksal,‘ meinten sie. Na ja, wer oder was immer das ist!
Und was haben andere zu sagen gewusst? Sie haben von einem maechtigen Supermann gefaselt, der alles weiss und alles kann. ER managed die ganze Schau. Geheim, versteht sich. Die ‚Untertanen‘ haben nur zu gehorchen. Femina fragte, was er denn zu verbergen habe, dieser Super-Ueberbruder. Das haette sie allerdings besser bleiben lassen, - man nannte sie dreist und unverschaemt. Das war noch das Mildeste! Irgendjemand hatte aber eine andere Antwort, die sie etwas aufhorchen liess: „Der grosse Potentator habe viele Namen. Er sei immer present. Man koenne ihn ueberall sehen. Man muesse nur wissen, wonach man sucht.“ Na ja, auch nicht besser! „So, und warum sieht ihn dann keiner“, hatte sie skeptisch weiter gefragt. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der etwas sah, was sie nicht sehen konnte. „Und wer hat ihn schon gesehn?“
„Auserwaehlte,“ hatte der Betreffende geantwortet.
„Und wer waehlt aus? Auch wieder er?“ Sie war dann eher ungehalten geworden, aber er schuettelte verneinend den Kopf und antwortete ganz sachlich: „Tombola! Das richtige Los, und schon ist man dabei.“ Er fand das ein sehr faires System.
Femina wirft neuerlich einen Stein. Diesmal peppelt er sogar volle dreimal. Tatsache ist, ihre Freunde sind fort. Sie wird sie nie wiedersehen. Diese Endgueltigkeit ist gnadenlos, denn in ihr findet sich nichts, das troesten koennte. Damit kann nichts so bleiben wie es war und nur die Zeit kann die Wunde heilen. Ganz gewiss kann sie dem, was man ihr so sagt, wenig Glauben schenken. Auch Dimitri und Pia gegenueber hat sie ihren Vorbehalt, obwohl sie ihnen noch am meisten vertraut. Sie fuehlt sich erbaermlich und verdammt allein. ‚Aber was kann sie schon machen‘, sie seufzt, ‚ohne Gedaechtnis, ohne konkrete Erinnerung!‘ Man kann ihr weiss was erzaehlen, wahr oder auch nicht. Sie findet die Tombolaloesung noch am besten und „Schicksal, Zufall“, sind wohl die besten Antworten unter all dem Quatsch! Sie muss ihr Gedaechtnis wieder finden! Nur dann kann sie mit Vernunft argumentieren, oder Beweise erbringen. Hoffentlich! Oder vielleicht treibt ihr Gehirn einen Scherz mit ihr? Vielleicht ist das, was da ist, alles was ist? Ihre Gedanken beginnen im Kreis zu laufen. Sie ist ihnen ausgeliefert und dementsprechend fuehlt sie sich. Wie soll sie grossartig Raetsel loesen, wenn keiner da ist, der ihr hilft! Zu wissen, wie man heisst, ist auch nicht gerade die Offenbarung. Anstatt auf ihre eigenen unbeantworteten Fragen Antworten zu finden, entstehen neue. Und was kann sie tun? Garnichts!
Sie laesst ihren Blick ueber die spiegelglatte Wasseroberflaeche gleiten. Der Teich ist so huebsch. Er hat einen Schilfguertel und traegt leuchtende Wasserrosen. Fische tummeln sich in seinem milchig gruenen Wasser. Er ist reich an Plankton und Schlingpflanzen bedecken Teile seines Grundes. Sie ist einmal beim Schwimmen in diesen Unterwassergarten geraten. Das fand sie allerdings nicht sehr angenehm. Es war, als wollten sie viele gruene Arme in die Tiefe ziehen. Inzwischen kennt sie den Teich genau, weiss, an welchen Stellen man baden kann und welche man besser vermeidet. Die Pflanzen wuerden ueberhand nehmen, wuerde man den Grund nicht hin und wieder umpfluegen. Der Teich sieht dann fuer eine Weile ganz nackt aus, nicht so huebsch wie jetzt jedenfalls. Sie zieht sich bis auf die Unterwaesche aus, geht die paar Meter hinunter zum Wasser und taucht prustend ins frische Nass. Sie schwimmt zu einem kleinen Felsen am anderen Ufer, den man von der Bank aus nicht sehen kann. Er ist viel zu klein und teilweise von Schilf umgeben, aber wie geschaffen, sich auf ihm nieder zu lassen, was sie, dort angekommen, auch tut. Die Sonne scheint warm. Junge Schlingpflanzen recken sich sehnsuechtig durchs Wasser nach oben. Noch sind sie weit genug von der Oberflaeche entfernt, so dass man leicht ueber sie hinweg schwimmen kann. Aber man kann sie sehen, wie sie sanft in der leichten Unterwasserstroemung wehen. Hin und her, und her und hin. Sie schliesst die Augenlider und gibt sich dem Wiegenlied hin.
Brrr! Sie froestelt. Es ist ploetzlich so kuehl geworden! Sie schaut auf. Da ist er wieder, der lange Gang. Die trueben Lampen schwingen sacht hin und her, und der Steinboden ist glatt und kalt. Sie steht auf, eilt den Flur entlang. Links und rechts gehen Tueren ab. Keine steht offen, aber das kuemmert sie im Moment wenig, denn sie sucht nach ganz was anderem. Sie ist schliesslich i n das Haus gelangt, also muss es wohl auch einen Ausgang geben. Sie will raus! Sie will nicht laenger bleiben. Tatsaechlich findet sie, was sie sucht. Am Ende des Ganges leuchtet matt ein Schild. „E X I T“, in roten Buchstaben auf weissem Grund steht da geschrieben. Es leuchtet allerdings nur schwach. Die Lampe, die das Gehaeuse ausleuchtet, ist genauso muede, wie alle anderen. Ein schwaches Licht nur, das nicht so weit reicht, um es von der anderen Seite des Ganges sehen zu koennen. Leider, so stellt sich schnell heraus, auch wenn da EXIT steht, sie kann das Haus durch jene Tuer, die als Ausgang bezeichnet ist, nicht verlassen. Es ist ein durchaus gediegener Ausgang, gross und weit, aber durch eine Stahltuere verschlossen. Da ist weder ein Griff, noch ein Schloss, noch ein Knopf oder gar ein anderer Mechanismus an der Tuer, noch den Waenden anbei. In der Mitte verlaeuft senkrecht eine feine Spalte. Offensichtlich handelt es sich um eines jener Tore, deren Fluegel automatisch auseinander gleiten, in die dafuer eigens angelegte Oeffnung im Gemaeuer. Femina kann probieren, soviel sie will, die Tuere laesst sich nicht oeffnen. Sie ist enttaeuscht, aber auch befriedigt, dass es zumindest einen Ausgang gibt. Sie wird das Weitere schon noch herausfinden.
Der Grundriss des Hauses scheint ein T zu sein. Links und rechts gehen zwei weitere Gaenge ab, wobei die Aussenwand Fenster hat und jene Waende, innerhalb des Hauses, haben weitere Tueren. Die Fenster sind gross und hoch, reichen bis zum Plafond. Sie haben Scheiben aus Milchglas. Man kann also nicht nach draussen sehen und leider kann man sie auch nicht einschlagen, weil sie naemlich vergittert sind, mit einem Gitter so fein, dass es mehr einem groben Netzwerk gleicht, als ueblichen Gitterstaeben.
Die beiden Gaenge enden in einer fensterlosen glatten Wand, also ist auch keine Nottuere vorhanden, wie das manchmal in groesseren Gebaeuden der Fall ist.
Sie kehrt zum Ausgangstor zurueck, laesst sich an der schraeg gegenueber liegenden Wand zu Boden gleiten und starrt auf den matten durchaus makellosen Stahl. Mutlosigkeit steigt in ihr hoch. Wie auch immer sie die Situation betrachtet, im Moment sitzt sie in der Falle. Was ihr einst als Rettung erschienen war, ist nichts anderes als eine Riesenfalle. So ungerecht, so eine Sauerei! Da war sie ohnehin bereits halbtot gewesen, aber anstatt zu sterben, ist sie in diesem Haus gelandet, und nun eine Gefangene, ohne Gedaechtnis und nur mit vager Erinnerung. Diese ist ganz sicher auch nur deshalb vorhanden, weil sie sich im Instinktiven verankert hat und damit habituell zur Gewohnheit geworden ist. Verzweiflelt versucht sie erneut ihren Verstand einzusetzen, um in die Tiefe ihres Bewusstseins zu tauchen und in den Spalten und Graeben ihres Gehirns zu stoebern, nach etwas, das Sinn ergibt. Aber so sehr sie auch ihren Verstand bemueht, er bringt nichts zutage. Also ist es wohl besser, sich mit dem Gegenwaertigen zu beschaeftigen, anstatt sinnlos nach ihrem Gedaechtnis zu graben.
Ihr Verdacht hat sich also bestaetigt. Sie ist in einer hoechst fragwuerdigen Welt gelandet. Wie soll sie diesen Ort nun nennen? Ph! Ihre Gedanken beginnen ein Ringelspiel. Sie kann sie richtig hoeren, so wirr ist ihr Geschwirr. ‚Ordnung muss sein‘, sagt ihre Vernunft. ‚Ruhig, nur ruhig‘, sagt sie sich. Weder Verstand, noch Koerper haben Grund zum Uebertreiben. Was heisst, sie sitzt in einer Falle!? Bisher ging es ihr doch recht gut. Nur jetzt ist klar, dass das, was ist, anders ist, als erwartet. So wie alles, was sie in diesem Haus erlebt hat, zweideutig und zweiseitig ist. Scheinwelt, Illusion einerseits, oder Welt des Betruges, Luege, andererseits. Damit ist die gegebene Realitaet weder eindeutig noch absolut.
Oder ist es wirklich moeglich, dass das was da ist, alles ist, was ist? Wer weiss, vielleicht ist tatsaechlich sie der Illusionist! Na dann ist sie in einem Zirkus gelandet! Das versoehnt sie ein wenig, denn sie hat immer eine Schwaeche fuer den Zirkus gehabt. Sie mag die Clowns ganz besonders. Die bringen Menschen zum Lachen, was besseres gibt es wohl nicht. Aber auch die Seiltaenzer haben ihre Bewunderung, meistern sie doch ihr Gleichgewicht.
Was soll’s! Fuer den Ort hier gaebe es wohl viele Namen, - sooo wichtig ist Ordnung nun auch wieder nicht! Zweckdienlich, das ist sie und dabei soll es bleiben. Was macht es schon aus, wenn die ganze Welt sie beluegt! Das ist doch wirklich egal! Eines steht allerdings fest: Sie muss aufpassen, dass sie sich nicht selber beluegt und sie muss ganz gewiss darauf achten, Schein nicht mit Wahrheit zu verwechseln. Aber am aller wichtigsten ist, dass sie nicht an sich selber zu zweifeln beginnt. Das mag unter den gegebenen Umstaenden tatsaechlich das Schwierigste sein.
Ausserdem, sie kann nicht umhin, fuer alles, was recht und wahr ist, einzutreten. Und damit hat sie ein Dilemma. Es bedeuted naemlich in jedem Fall Konfrontation und unangenehme, wenn nicht gar traurige und schmerzliche Zeiten, nicht nur fuer sie. Dem moechte sie am liebsten aus dem Wege gehen. Sie mag weder andere leiden sehen, noch mag sie Heldin spielen. Es waere gewiss besser, wenn sie dieses Haus so schnell wie moeglich verlassen koennte. Weil das aber im Moment unmoeglich zu sein scheint, muss sie sich mit dem banalen, ‚was nicht ist, kann noch werden‘, zufrieden geben.
Da bleibt also nur noch die Trauer um ihre Freunde. Sie seufzt. Sie waren herzensgute Menschen und haben ihr mit sovielem geholfen. Sie wird sie wohl lange vermissen und nie freiwillig vergessen. Es faellt ihr ungemein schwer, ihre Gefuehle in Worte zu fassen. Tatsaechlich ist ihre Trauer bodenlos. Ein Lied faellt ihr ein, dass sie ihr oft vorgesungen haben:
„Mariechen sass weinend am Strande..........“