Die Geschichte beginnt zwischen Tag und Nacht, mit der Morgendaemmerung, um genau zu sein. Nichts ungewoehnliches, denn es wird ein Morgen wie jeder andere auch, aber fuer die eine Person wohl nicht, die jetzt noch schlaeft, friedlich zusammengerollt, in einer Mulde zwischen Felsgestein. Der Kopf ruht auf dem angewinkelten Arm. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Die langen Haare fallen wie ein Vorhang ueber Gesicht und Schultern. Es ist eine weibliche Gestalt, voellig nakt, und obwohl um diese fruehe Stunde die Luft am kuehlsten ist, scheint die Schlafende davon nichts zu spueren.
Am Horizont kuendet sich zaghaft der Morgen an. Blass bahnt er sich durch dunstige Schleier und es ist ausnehmend still, kein Vogelgeschrei, kein Rascheln von Gras, die Nacht verschwindet ganz leise. Zwischen Himmel und Erde faerbt es sich orange-rot und ueber das Land ergiesst sich langsam ein waermendes Licht, taucht alles in goldrote Farbe. Die Schlafende dehnt sich im Schlummer, streckt ihre Glieder und schlaegt die Augen auf. Der Schlaf verlaesst sie nur schleppend, obwohl die Sinne ihm hart an den Fersen sind. Sie setzt sich auf. Just in dem Augenblick steigt am Horizont die Sonne auf. Zuerst ist nur ein gold leuchtenden Rand zu sehen, aber nach und nach erscheint sie in all ihrer runden Fuelle. Muehelos laesst sie die Morgenschleier hinter sich zurueck, die schliesslich in verschaemter Roete verloren gehen. Es ist eine wundersame Sonne. Sie schwebt leicht zu wie eine Feder, obwohl sie schwer sein muss, denn sie ist so gross und glaenzt als sei sie eine Kugel aus purem Gold. Man koennte meinen eine unsichtbare Hand habe sie aus der Tiefe der Nacht ueber den Horizont gehoben und auf ihre Bahn gesetzt. So wie die Morgenroete verlischt, ist der neue Tag geboren.
Die eben Erwachte hat diesem Schauspiel bewundernd zugesehen. Nun erst schaut sie um sich. Verstaendnislos, verwirrt und erstaunt mustert sie ihre Umgebung, nahe und ferne, egal wohin sie blickt, sie kennt sich nicht aus. Die Gegend ist ihr voellig fremd und sie kann sich auch nicht erinnern, wie sie hierher gekommen ist. Da befindet sich hinter ihr eine Barriere aus Felsen, die sich wie ein Band nach rechts und links vom Lager in die Ferne zieht und vor ihr liegt eine Ebene soweit das Auge reicht. Die Felsen hinter ihr tuermen sich hoch, sind rund und glatt geschliffen. Steinruecken greifen wie riesige Finger nach vorne hinein in die trockene und harte Erde, die dann groessere und je weiter weg sie sind, kleinere Steininseln formen, bis schliesslich auch diese verschwinden und in losem Gestein untergehen. Und dann ist nichts wie Ebene. Flach, wie ein gepresstes Stueck Holz, kein Busch, kein Baum, nicht einmal Gras. Im gelblichen, von feinen Rissen durchzogenen Boden gedeihen nur wenige sehr bescheidene Halmgewaechse. Es mangelt ganz offensichtlich an Wasser und von Tieren ist keine Spur.
Die junge Frau schliesst ihre Augen, versucht ganz tief in sich hineinzugehen, um sich zu besinnen. Oder ist das alles nur ein Traum? Sie stellt bald fest, sie ist schon wach, aber sonst kann sie sich an nichts erinnern.
‚Verdammt! Wie kommt sie bloss hierher? Was wollte sie da? Warum ueberhaupt?‘ Sie versucht sich erneut zu konzentrieren mit aller Kraft, hoert nach innen, schaut nach innen, durchforstet ihr Gehirn. Aber da sind nur sehr wenige klare und sonst nur sehr viele verschwommene Bilder, mit denen sie nichts anfangen kann. Da ist kein Hinweis auf was Konkretes und schon gar keine Antwort auf ihre Fragen. Es kommt aber noch schlimmer. Sie stellt naemlich fest, dass sie nicht einmal weiss, wer sie ist, oder wie sie heisst.
Panik beginnt sich in ihr auszubreiten. Sie springt hoch und versucht verzweifelt einen Weg nach oben ueber die Felsen zu finden. Schliesslich muss sie die Sinnlosigkeit dieses Unternehmens einsehen. Sie wuerde nur ihren Hals riskieren ohne Aussicht auf Erfolg. Der Felswall scheint sich immer hoeher und hoeher aufzutuermen, und der Stein ist zu glatt, sie findet keinen Halt. ‚Zurueck kann sie also nicht, dieser Weg scheidet aus.‘ Sie laesst sich verzagt nieder. Steinsitze gibt’s ja genug.
Langsam beruhigt sie sich, beginnt sich sogar wegen ihres Kleinmutes zu beschimpfen. Sie hat schliesslich keinen Grund so vorschnell zu verzweifeln. Ihren Verstand hat sie ja noch, und der sollte ihr helfen, anstatt sie in Panik zu treiben! ‚Eines nach dem anderen,‘ sagt sie sich und beginnt systematisch mit einer Bestandsaufnahme: ‚Sie kann sich also an nichts erinnern, das ist die Basis von der aus sie agieren muss. Zweitens, ein Weg scheidet bereits aus, um etwaige Klarheit zu finden, hat sich bereits als unmoeglich erwiesen, die Felsen hoch zu klettern. Wohl koennte sie die Felsbarriere entlanglaufen, aber sie scheint genauso fern sich hinzuziehen, wie die Ebene vor ihr. Und wer sagt schon, dass sie dann einen Weg ueber die Felsen findet. Sie koennte durchaus im Kreis laufen, und was hinter ihr liegt, - nun, - das muss ja auch nicht unbedingt des Raetsels Loesung bringen.‘
Sie seufzt. ‚Was bloss ist passiert? Und warum?‘ Sie kann nicht umhin, sie fuehlt sich ausgeliefert und voellig verlassen. Dieses verdammte schwarze Loch in ihrem Kopf, dort, wo ihr Gedaechtnis einmal war! Wut steigt in ihr hoch und Aggressionen, aber damit ist ihr auch gedient. Sie kann sie nur gegen sich selbst richten und das ergibt keinen Sinn. Es muss schliesslich auch, oder zum Teil wenigstens, ihre Schuld sein, fuer das, was auch immer, geschehen ist. Wer weiss, worauf sie sich eingelassen hat und aus welchen Gruenden. Und jetzt hat sie’s einfach mit Konsequenzen zu tun. Sie seufzt wieder. Selbstvorwuerfe bringen sie auch nicht weiter. Was kann sie wirklich tun? Hier sitzen bleiben? Warten? Die Sonne hat bereits einen Teil ihres Weges am Himmel zurueckgelegt, unbeirrt, und die Schatten wandern mit ihr. Sie gleisst ganz in Weiss, ihre Roete ist laengst Vergangenheit.
Langsam beginnt die Gedaechtnislose zu begreifen. Sie hat zwar ihr Gedaechtnis verloren, dafuer aber ein nagelneues Bewusstsein erhalten. Genau betrachtet kann das ein Vorteil sein, eroeffnet es doch neue Moeglichkeiten. Nichts zu wissen, frei sein von Vergangenem, - das ist wie das Aufschlagen eines neuen Buches mit unbeschriebenen Seiten. Es bietet die Chance, neue Wege zu gehen, die man sonst nicht ins Auge fassen wuerde, weil Gedaechtnis schliesslich auch beschraenkend sein kann. Ploetzlich scheint ihr ihre Situation nicht mehr ganz so trostlos. Sie spuert sogar etwas Optimismus. Na wenn schon alles so ziemlich raetselhaft ist, sie ist ein Fatalist. Sie kann nehmen, was da ist und viel braucht sie ja nicht. Damit steht fest, dass sie nicht hierbleiben und auf Ominoeses warten wird. Sie wird sich auf die Beine machen. Die Ebene vor ihr waehlt sie als ihre Zukunft. Es ist egal, ob das was bringen wird, sie will jedenfalls was tun. Vielleicht kehrt auch allmaehlich ihr Gedaechtnis zurueck, vielleicht hilft ihr das Neue sich zu erinnern. Mit Hoffnung lebt’s sich immer gut und Mut hat sie auch genug. Was hat sie denn schon zu verlieren! Ihr Leben? Das scheint ihr augenblicklich kein grosser Verlust, - es laesst sich nicht einmal identifizieren. Sie kann sich ohnehin gluecklich schaetzen, - ihre Sinne, ihr Verstand, ihre Organe funktionieren reibungslos und stehen ihr voll zur Verfuegung. Sie ist weder verletzt, noch irgendwie behindert, - dem Himmel sei Dank! Es ist ihr aber auch klar, dass sie nach ihrem Gedaechtnis suchen wird, daran soll sie niemals etwas hindern. Sie weiss naemlich, dass altes Wissen vieles leichter macht, wenn man es nur richtig verwendet. Sie wird daher jeder aufsteigenden Erinnerung nachgehen, egal wie vage sie sein mag. Sie will, ja sie muss sich Klarheit zu schaffen. Sie verzichtet auf ihren Verstand zu hoeren, mit seinem wenn und aber, dafuer ist es laengst zu spaet. Das haette sie frueher tun muessen. Und fuer zum Reue hat sie erst recht keinen Grund, - sie wuesste nicht einmal was. Besser, sie beschaeftigt sich mit dem, was ist und was sie hat.
Ihre Augen schweifen umher, um sich mit dem was da ist, vertraut zu machen. Sie muss gestehen, sie findet die Gegend bizarr. Leben scheint kaum zu existieren und doch, die Landschaft ist in ihrer Einfachheit aufregend schoen und auch Bewegung ist da, - das Auge nimmt nur nicht alles wahr.
Die Sonne hat den Zenit ueberschritten und brennt nun gnadenlos heiss. Die Felsen reflektieren die Strahlen, glaenzen selbst ganz metallen. Sie beobachtet ihre Umgebung fuer eine Weile ganz genau. Es ist, als halte sie Zwiesprache mit ihr. Sie versteht das Land in seiner Sprache. Es geht um Sein und Endlichkeit und um fortschreitendes Veraendern, aber auch um Schein und Wirklichkeit, um Information und Beweisen. Sie fuehlt sich stark werden, ist wie ein Schwamm, der sich voll saugt mit Kraeften vom Fels, und wie die Halme wird sie sich mit Tau begnuegen. Verzagen? Verzweifeln? Wovor! Wofuer!
Sie steht auf und beginnt geradewegs in die weite Ebene heineinzuwandern. Im Moment scheint das das einzig Sinnvolle zu sein. So wird sie ihr Bewusstsein vergroessern und ihr bewusst Sein erweitern. Sie wird anstatt verzagen, lernen und die Verzweiflung der Kritik ueberlassen. Damit schreitet sie schnurstracks voran, ungewiss dessen, was sie erwartet, oder was sie erwarten kann.