Femina moechte noch einmal auf das Thema Emanzipation zurueckkommen, findet aber nicht so recht den passenden Einstieg. ‚Unsinn‘, faehrt es ihr durch den Kopf, ‚sie koennte grad so gut damit beginnen, dass der Kosmos in eine neue Periode eintritt, oder sie koennte jene Frage aufwerfen, die sich jeder irgendwann einmal stellt, naemlich, ‚was bin ich?‘ Oder sie kehrt zurueck zu ihrem Verhaeltnis mit Maennern, oder zu ihrem jetzigen Freund. Alles laesst sich auf das Thema Emanzipation reduzieren: Die Menschheit ist vor die Alternative gestellt, sich entweder auszurotten oder sich von ihrem primitiven Schema des Ueberlebens zu befreien; jeder einzelne Mensch muss Selbstverantwortung akzeptieren und sich von seinen Abhaengkeiten trennen; na und sie selber muss sich von ihren eigenen Anspruechen und Erwartungen befreien, um ihre eigene Freiheit wahrnehmen zu koennen.
Femina wendet sich Tina zu. Waehrend sie sie betrachtet verzieht sich ihr Mund zu einem breiten gluecklichen Laecheln. Ihre Freundin ist Mitstreiterin, das genuegt. Sie laesst das Thema Emanzipation fallen und gibt sich stattdessen dem Gefuehl der uneingeschraenkten Dankbarkeit hin.
„Jeden Tag stelle ich mindestens einmal fest, wie sehr Fortuna mich beguenstigt,“ sagt sie daher. „Was meinst du, haben wir nicht alles was wir brauchen, und mehr als das? Wir leben im Ueberfluss. Wenn ich mir vorstelle, unter welch miserablen Bedingungen andere leben muessen......“ Sie hebt die Hand, weil Tina sich anschickt, sie zu unterbrechen, und sie weiss genau, was diese sagen will, naemlich, dass dies kein Grund sei, sich ein schlechtes Gewissen zu machen. Seien doch Sozieterna‘s Vorfahren durch soviel Trauma und Widrigkeiten gegangen, wie selten eine Volksgruppe. Sie wurden verfolgt, gefoltert, ermordet, - in manchen Gegenden tut man das heute noch, auch wenn sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Sie sind bloss andersartig und andersdenkend. Allerdings kann das jedem passieren. Etablierte Gesellschaften wehren sich immer gegen das Neue oder Fremde. Die Geschichtsbuecher berichten hinlaenglich davon.
„Ich mach mir keine Gewissensbisse,“ faehrt sie deshalb fort, „ich bin bloss froh, dass ich eine Sozieterna bin. Zugut erinnere ich mich daran, wie ich mich fuehlte, als ich mir dessen nicht bewusst war.“
Tina nickt zustimmend. Allerdings, im Gegensatz zu Femina, war sie sich ihrer Herkunft immer bewusst. Sie ist ausserdem vollkommen davon ueberzeugt, dass sie sich ihr Glueck verdient haben. Dementsprechend antwortet sie:
„Das Glueck gehoert dem Tuechtigen! Was tun die anderen schon fuer ihr Glueck! Sie warten darauf, dass sie es geschenkt bekommen. Von Gott, Koenig, Regierung, Gatten oder Gattin, wem auch immer sie Macht zugestehen. Selber tun sie dafuer aber nichts! Und wenn sie was tun, dann ist das meistens das Falsche. Sie tanzen um das goldene Kalb. Tut mir leid, ich habe kein Mitleid und kein Verstaendnis fuer sie, zumindest heute habe ich kein Mitleid.“
Femina’s Gedanken wandern zuruck zu ihrer Jugend. Sie hat lange nicht gewusst, dass sie eine Sozieterna war. Ihre Eltern erzogen sie zwar in diesem Sinne, aber sie sprachen nie ueber Sozieterna. Hin und wieder erwaehnte ihre Mutter ihre Herkunft, doch als Kind schenkte sie dem keine Aufmerksamkeit, fand es nicht bedeutend und mehr oder weniger vergass es. Sie hatte eine sehr behuetete Kindheit. Obwohl ihre Mutter eine zahlreiche Sibschaft hatte, der Kontakt blieb beschraenkt, teilweise wegen der Entfernungen zwischen ihnen aber auch weil ihr Vater weniger daran interessiert war. Er hatte keine Verwandten, ausser einer Schwester, die er erst sehr spaet in seinem Leben ausfindig machte und die bald danach verstarb. Er war ein Einzelgaenger und pflegte keine regelmaessigen Kontakte ausserhalb ihres eigenen Haushaltes. Dafuer schenkte er ihr seine vollkommene Aufmerksamkeit. Sie fuehrten ein bescheidenes Leben, aber es war reich an Dingen, die man nie und nimmer kaufen kann. Mutter war voll mit Liebe und Frohsinn, begeisterte sich fuer Musik, singen und tanzen. Sie spielte ihr eigenes Instrument and ihre Eltern sangen zusammen manche Weisen, die man eher selten anderswo hoeren konnte. Vater hatte viele intellektuelle Interessen und las gerne. Er wusste ausserdem viele Geschichten zu erzaehlen, von seinen zahlreichen Reisen, nah und fern. Er war Fremden gegenueber hoechst aufgeschlossen. Sie hatten des oefteren Gaeste bei sich im Haus, Reisende aus allen moeglichen Ecken der Welt, was tatsaechlich voellig im Gegensatz stand zu seinem sonstigen Unwillen soziale Kontakte zu pflegen. Femina allerdings, obwohl sie das einzige Kind war, fand in ihrer Familie die beste Unterhaltung. Sie genoss auch die seltenen Kontakte mit ihren Verwandten und liebte die Zeiten, die sie mit ihren Grosseltern auf dem Lande verbringen konnte. Es war vollkommenen gegensaetzlich zu ihrem Leben in der Stadt mit ihren Eltern. Doch Frohsinn, Musik und Tanz war da wie dort. Mit Eintritt ins Schullebens begann sich ihre Welt zu aendern, zuerst langsam und unauffaellig, aber in zunehmendem Masse. Sie wurde sich ihrer Andersartigkeit langsam bewusst. Vorallem als sie ins Internat kam, wo sie mehr oder weniger auf sich allein angewiesen war, ohne elterliche Fuersprache, entstanden Probleme. Das waren traurige Zeiten. Deprimierende Zeiten! Immer nach Fehlern bei sich suchend, wenn sie Probleme bekam, ratlos wenn sie sich keiner Schuld bewusst war, und verwirrt, wenn man darauf bestand, dass sie schuldig war. Doch der Groschen fiel lange nicht. Es wurde leichter fuer sie, als sie das Internat hinter sich lassen konnte und waehrend ihres Studiums auf Reisen ging. Als Auslaender ist man gezwungener Weise andersartig als die lokale Bevoelkerung. Das Reisen tat ihrer Seele gut. Trotdem, es fiel ihr auf, dass sie eine merkwuerdige Affinitaet zu einem bestimmten Menschentyp zeigte. Dann bekam sie zufaellig einen Bericht in die Hand, der ueber diese voelkische Minderheit, Sozieterna, recherchierte. Sie war wie vom Blitz getroffen, - kein Wunder, dass sie ihre Fehler nicht finden konnte, - da waren keine, - sie war bloss von einer anderen Kultur! Mutter’s Hinweise auf ihre Herkunft schienen ploetzlich aus der Tiefe ihres Gedaechtnises aufzutauchen.
Klar, bei der naechsten Gelegenheit wurden ihre Eltern befragt. Sie wollte sicher sein, was ihre Herkunft betraf. Sie laechelt. Genau an diesem Tage hat sie Tina kennengelernt, kurz nachdem sie mit ihren Eltern gesprochen hatte, um genau zu sein. Die Unterhaltung mit ihnen war naemlich anders abgelaufen, als sie erwartete und sie war ziemlich verwirrt ins naechste Beisel gegangen, um sich zu beruhigen. Spaeter konnte sie nachdenken.
‚Ja, ja, sie sei eine Sozieterna. Warum das ploetzlich so wichtig sei?!‘ Verdammt, sie verstanden ueberhaupt nicht! Sie wussten nichts von ihren Depressionen. ‚Und ob das wichtig sei‘, war ihre Antwort. Da meinte der Vater nur, ‚sie solle sich nicht an anderen messen,‘ und ihre Mutter sagte, sie haetten es ihr deshalb nicht dauernd vor Augen halten wollen, weil sie, Femina, die Wahl haben sollte. ‚Die Sozieterna habe schliesslich kein Monopol auf ihr Leben, nur weil sie eine war. Obendrein, beide Eltern waren in einer Zeit aufgewachsen, wo man seine Herkunft am besten verschwieg, denn das herrschende Regime war im Rassenwahn auf Voelkerreinigung aus. Die Grosseltern mussten sogar eine Namensaenderung vornehmen, um keinen Verdacht auf sich zu lenken. Zwar sind diese Zeiten nun vorbei, doch Sozieterna generell war nie an ethnischer Deklaration interessiert gewesen. Ihre Eltern sahen keinen Grund dies zu aendern.‘
Was gaebe es zu darauf erwidern? Sie konnte ihnen nicht einmal ernste Vorwuerfe machen. Da war erstens dieses abgeschiedene Leben waehrend der ersten Jahre ihrer Kindheit, dann diverse Schulen im Zentrum, spaeter im Ausland, sodass sie ihre Eltern nur in den Ferien sah. Tatsaechlich war fuer dieses Thema nie Anlass gewesen. Sie hat schliesslich nie gefragt. Da ist sie dann ins Pub gegangen. Ihren Oldies zu erklaeren, dass sie aus Unwissenheit viel gelitten habe, unterliess sie, sonst wuerde ihr Papa gewiss eine Moralpredigt loslassen und ihre Mama ein schlechtes Gewissen kriegen. Sie wollte weder das eine noch das andere. Aber sauer war sie, auf ihre Eltern, auf sich und erst recht auf alle anderen. Femina laechelt.
„Hey,“ Tina schnippt mit den Fingern. Das bringt sie zurueck aus der Vergangenheit.
„Ich dachte eben daran, wie wir uns kennengelernt haben,“ sagt sie entschuldigend. „Erinnerst du dich, wir waren beide ziemlich veraergert.“
„Ja, das waren wir,“ bestaetigt ihre Freundin, „allerdings, im Gegensatz zu dir war ich stocksauer, eine Sozieterna zu sein. Ich hoerte jeden Tag von meinen Eltern, wie gut , wie schoen es sei, dieser Voelkergruppe anzugehoeren, aber ich hatte Schwierigkeiten mit den meisten Menschen. Probleme, genauso wie! Nur habe ich damals die Sozieterna dafuer verantwortlich gemacht. Hm, mir sind meine Eltern total auf die Nerven gegangen und die ganze Sozieterna konnte mir den ‚Buckel runterrutschen,‘ nicht wahr!“
Belustigt schwelgen sie in Erinnerung. Fuegung des Schicksals, gluecklicher Zufall, - wie auch immer, - daraus ist eine Freundschaft entstanden, die sich bereits beim ersten Treffen als hoechst produktiv erwies und ihre Zusammengehoerigkeit besiegelte. ‚Spieglein, Spieglein an der Wand.......‘, sie fanden den Zauberspiegel in den Augen des anderen, der es ermoeglicht, eine Reflexion hinter dem oberflaechlichen Selbstportraet zu sehen, sozusagen das Selbst mit einer neuen Facette, das erst unter anderer Beleuchtung zum Vorschein kommen kann.
Der Abend wird heute kurz gehalten. Sie sind zu muede fuer eine andere lange Nacht. Die Kleine hat nach einigen Niederlagen vom Spiel mit Robbi genug und setzt sich zu ihnen. Sie beschliessen, sich eine Dokumentation im TV anzusehen. Um im Thema des heutigen Tages zu bleiben waehlen sie eine Sendung, die ueber seltene Tiere in einer fernen Ecke der Welt zu berichten hat und die, in grossartiger und aufwendiger Photographie, dem Programm alle Ehre macht. Es gefaellt allen dreien ungemein und bewerkstelligt, dass der Tag in versoehnlicher Stimmung endet. Danach wuenschen sie sich eine gute Nacht und gehen zu Bett. Die Lichter sind bald ausgeloescht und der Schlaf nimmt sie in seinen Arm. Die Traeume spinnen ein glaenzendes Garn.