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DNS II, Kapitel 7, Teil 1

Posted by on in Buch Kapiteln

 

Hoehlenforscher kennen den Effekt absoluter Finsternis und Stille und wie sich das auf Geist und Gemuet auswirkt. Gaebe es die Sinne nicht, man koennte grad so gut suspendiert in einem Vakuum leben, in dem Zeit und Raum keine Bedeutung haben und das Leben selber eine andere Gestalt annimmt. Es ist den Sinnen zu verdanken, dass der Verstand den Faden zur Realitaet nicht verliert, denn die Grenzen zwischen dem, was ist und was nicht, sind unstet und ungenau. Wirklichkeit und Traum, an sich separate Zustaende, verschmelzen und vermischen sich, grad so wie die Farben eines Aquarells, oder die Toene einer Windorgel. Der Verstand ist allerdigs immer auf die Sinne angewiesen. Nur so kann er mit der Realitaet umgehen, in deren Rahmen er lebt, an die er sich anpassen muss und schliesslich gewoehnt, so dass das Alltaegliche zur Routine wird und in Effekt seine Arbeitsleistung steigert und seine Pflichten erleichtert. Das Sensorium ist unbestritten fuer  a l l e  Lebewesen das wichtigste Instrument, um den Anforderungen der Umwelt nachkommen zu koennen, nicht nur koerperlich, sondern eben auch geistig und natuerlich erst recht, emotionell. Ohne Gefuehle geht naemlich garnichts! Nur so kann der Verstand sein Equilibrium bewahren; andernfalls wuerde er die ploetzlichen und voellig unvorhersehbaren Situationen des Lebens, wie auch das Schwinden seines Wirklichkeitsinns in einer ihm ungewohnten und fremdartigen Hoehlenwelt, nicht verkraften. Er wuerde in der Tat verloren gehen, oder sich, gelinde gesagt, „verrueckt“ machen.

Das Aufloesen, oder Verschmelzen der Grenzen, ist nicht unbedingt unangenehm, nur ist es wechselhaft und unbestaendig in Charakter, was natuerlich verwirrend ist und erst recht zur geistigen Verunsicherung beitraegt. Den Prozess der Anpassung, wie hier, vom Leben ueber, zum Leben unter der Erde, koennte man als das Zusammenlaufen zweier Fluesse sehen, wo beide mit ihren eigenen Farben und Qualitaeten nebeneinander einherlaufen, bis sie sich  schliesslich integrieren und zu einem neuen Fluss werden, mit voellig neuem Charakter, aber ohne offensichtlichen Hinweis darauf, dass seine Elemente aus zwei verschiedenen Quellen stammen. Nur wenn sich der Verstand dazwischen draengen kann und die Grenzen demarkiert, ist es moeglich, den Zustand des Wachtraeumens, oder den Prozess der Assimilation durchzustehen, ohne dabei seine Identitaet, und somit den Bezug zu seiner urspruenglichen Existenz, einzubuessen. Das allerdings ist nicht unbedingt, und schon gar nicht immer, wie man glauben moechte, willkommen. Es ist jedoch unbedingt notwendig, sonst wuerde naemlich das Anpassen nicht erfolgreich sein und kein Hoehlenforscher wuerde jemals heil aus den Tiefen auftauchen koennen, ja vielleicht nicht einmal wollen. Abgesehen davon, Hoehlenforscher gehen nie ohne entsprechende Vorbereitungen und Absicherung in ein Hoehlenterrain, bekannt oder auch nicht. Zu evident sind diese (und natuerlich andere) Gefahren.

Wie lange sich Femina und Genossen, Fluechtende wohlgemerkt, nicht Hoehlenforscher, in dieser unterirdischen, licht- und lautlosen Welt verborgen gehalten haben und darin herumgeirrt sind, ist Femina laengst nicht mehr bewusst. Sie hat auch aufgegeben, sich etwas zu wuenschen, oder zuviele Gedanken zu machen, da diese nur im Irrgarten ihrer Gefuehle landen und Unruhe stiften. Sie begnuegt sich damit, einen Schritt vor den anderen zu setzen, automatisch, rythmisch, alles, wie auch immer beschaffen, in kleinste Abschnitte zerlegend. Oft genug glaubt sie sich allein auf einem langen, einsamen Weg, dessen Ende nicht abzusehen ist und der obendrein bloss ein imaginaeres Ziel hat. Es geht dabei immer nur voran, immer nur in eine Richtung, aber wohin es geht ist ungewiss, - sie koennte grad so gut, ohne sich dessen bewusst zu sein, im Kreis laufen. Und immer ist es Nacht, eine nicht endenwollende, pechschwarze Nacht, schwaerzer noch wie jene ohne Mond und Sterne; und es ist so still, dass sie selbst das Knistern und Rieseln von Staub und Erde hoert,  zwischen Stein und Felsenspalten. Sie sind Eindringlinge, ein fremdartiger Organismus in dieser stillen, schwarzen und einsamen Welt. Sie sind Kreaturen aus einer anderen Existenz, die den Hoehlenbewohnern, falls es hier ueberhaupt welche gibt, wie bizarre Unwesen erscheinen muessen, die mehr Angst hervorrufen, wie neugierig machen, so dass sie sich lieber verborgen halten, bis sich diese ‚Ungeheuer‘, hoffentlich ohne Schaden anzurichten, wieder entfernen. Allerdings mag es hier wirklich keine Lebewesen geben, und wenn schon, dann sind diese ganz sicher grad so fremdartig fuer sie, wie sie den anderen erscheinen. Eingehuellt in Licht, durch ein Seil miteinander verbunden, sehen sie wie eine in die Laenge gezogene Lichtblase aus, aehnlich einem dickem, gruen leuchtenden Wurm oder Katerpillar, der sich dem Gelaende anpassend, dahin raupt und sich mit Fuehlern aus Licht, seine Wege sucht. Freilich, eine hoechst ungewoehnliche Raupe, die nur solange leuchtet, wie sie Licht von den Phosphorstaeben erhaelt. Wenn sich dieses abzuschwaechen beginnt, ist es an der Zeit, dass sie sich fuer ihre lange Rast niederlassen, mit ein paar Happen zum Essen und ein paar Schlucken von Wasser, um dann, wenn das Licht endgueltig verlischt, in Schlafsaecken verkrochen, oder unter den Notdecken zusammenkauernd, in Schlaf zu verfallen, oder auch nur in Traeume, aus denen sie erst wieder erwachen, wenn Rocky’s Armbanduhr Alarm schlaegt und er sie mit neuem Licht versorgt und zum Weitergehen abkommandiert.

Rocky ist der Kopf und das Herz des Katerpillars. Ohne ihn waeren sie bereits tot. Oft genug laesst er sie rasten und schlafen, waehrend er selber auskundschaften geht. Er ist der beste Fuehrer, den sie sich wuenschen konnten, was natuerlich auch dem Umstand zu verdanken ist, dass er als Ureinwohner das Land kennt und Erfahrungen mit Hoehlen hat, die keiner von ihnen besitzt. Zudem hatten sie Glueck, so erklaerte er es ihnen, denn sie waren in einer besonderen Art von Hoehlensystem, mit Gaengen, die, wie die Legende es hatte, durch eine maechtige Schlange mit Feueratem entstanden waren, was in Femina sofort die Assoziation mit Lavastroemen hervorrief. Demnach war dieses unterirdische Labyrinth vor Millionen von Jahren entstanden, jenen Zeiten also, wo die Erde jung war und Vulkane aus ihrem Boden wuchsen, wie Pflanzen aus dem Gartenbeet. Heute sind nur mehr die Hoehlen, Roehren und allerlei Schaechte als Zeugen uebrig. Die meisten, denen sie folgen, sind relativ geroellfrei und aus verschiedenartigem Gestein, poroes, hart, sowie unterschiedlich glatt oder rauh. In einigen Abschnitten mussten sie allerdings ueber scharfe Spitzen und extrem bruechigen Boden steigen, die unter ihren Schritten zersplitterten und fuer ein gefaehrliches Abbrechen und Einbrechen des Bodens sorgten, was ihren Weg zur Qual machte und das Fortschreiten so muehsam, dass sie der Verzweifling naeher waren, als der Hoffnung, diese Huerden je ueberwinden zu koennen. Und trotzdem gelang es ihnen, sogar ohne grosse Verletzungen, weil diese Bedingungen, dem Himmel sei Dank, nicht all zu oft vorkamen und auch nicht ueber allzu lange Strecken und nur selten in einigen Hoehlen. Freilich, ohne Kalamitaeten, wie Abschuerfungen und Schnittwunden ging es nicht, vorallem nicht fuer Oliver. Femina’s „Reiseapotheke“ leerte sich schneller, als es wuenschenswert war. Wer sagt, dass Materie kein Gedaechtnis hat und Alter nicht daran nagt? Das war fuer sie jedenfalls von praktischer Bedeutung, denn dieses wirklich grausam gefaehrliche Terrain musste, so nimmt Femina an, juengeren Ursprunges sein, juenger jedenfalls, wie der Rest, sozusagen „Nachzuegler“ der hochaktiven Vulkantaetigkeit, waren sie doch ein Zeichen dafuer, dass die Lavastroeme weniger fulminant und unter anderen Bedingungen flossen, und eher lokale Ausbrueche darstellten, die rasch abkuehlten und noch wenig Zeit hatten, ihre Rohheit zu verlieren. Die aelteren und alten Passagen haben daher den Vorteil besserer Wegbeschaffenheit, nur ohne Tuecken sind sie nicht. Es gibt naemlich offene Spalten und Schaechte, in Boden und Decke, die ihre volle Aufmerksam verlangen und sogar ein Risiko fuer Steinschlag sind. Ihr Leben ist deshalb immer in Gefahr. Zudem kann man sich in ihnen leicht verirren, weil sie alles ziemlich gleich aussieht und es keine Orientierungshilfen gibt, wie markante Hoehlen-, oder Steinformationen. Aber schlimmer noch, es gibt kein Wasser, im Gegensatz zu jenen Systemen, die von Wasser geschaffen worden sind. Nur! Wie Rocky schon einmal bemerkt hat, alle Hoehlen, egal welchen Ursprunges, sind potentielle Todesfallen, weil sie sich in einer Klimazone extremer Wetterbedingungen befinden. In der Ueberlieferung seines Stammes gibt es Geschichten von kataklysmischen sintflutartigen Katastrophen, die dem Unwissenden geradezu wie ‚ueberirdische Fuegungen‘ erscheinen moegen, weil sie sich derart selten ereignen, mit Jahrzehnten, oder eher Jahrhunderten dazwischen und ohne dauerhaften Hinweisen, dass solche Ereignisse je stattgefunden haben, trotz ihrer verheerenden Kraft und deren Konsequenzen. Aber man weiss, dass jedes Netzwerk von Hoehlen, ganz allgemein, als Wasserkanalsystem dient, fuer alles saisonbedingte Wasser, vor allem, wenn es zuviele Regenstuerme gibt. Nur, hier fliesst das Wasser wirklich ab, so schnell, wie es kommt und der Rest versickert durch loechriges und poroeses Gestein, so dass kein Tropfen zurueckbleibt und auch kein Zeichen dafuer, dass es sich wahrscheinlich doch in tiefen Spalten und hohlem Terrain ansammeln kann. Freilich, waehrend der Trockensaison mag auch das immer weniger werden oder gar verschwinden, und was zurueckbleibt koennte durchaus ungeniessbar sein. Das wuerde Femina allerdings nicht abhalten davon zu trinken. Selbst faules Wasser wuerde ihnen allen wie ein Geschenk des Himmels vorkommen. Wassermangel ist naemlich ihr groesstes und das schlimmste Problem. Es ist fraglos eine brutale und qualvolle Erfahrung und sie wissen, dass es ein bitteres Ende geben wird, sollte sich das Terrain nicht aendern. Zwar hatte Rocky in weiser Vorsicht darauf bestanden, soviel an Wasservorrat mitzunehmen, wie nur moeglich, und auch auf sofortiges Rationieren, sobald sie sich abgeseilt hatten; er hatte sie auch sogleich wissen lassen, dass er, langfristig, nicht in Wilson, sondern im Wassermangel, die groesste Gefahr fuer sie sah, und hat sie sogar entsprechend vorbereitet; - nur, - sie waren damals voellig naiv, ja ahnungslos gewesen, wie sich das praktisch auswirken wuerde. Keiner von ihnen hatte jemals an Durst gelitten, zumindest an keinem, dem nicht abzuhelfen war. Jetzt wissen sie es und was es heisst, dem Verdursten nahe zu sein. Sie finden es schlimmer, wie jede andere Art koerperlichen Schmerzes, so glauben sie jetzt wenigstens. Zudem wissen sie, dass der Wahnsinn auf sie wartet; es ist nur eine Frage der Zeit. Dass Rocky das Risiko schon damals richtig einschaetzen konnte, spricht natuerlich fuer ihn, sowie fuer seine unbestrittenen Kenntnisse von der Natur seines Landes und dessen sorgsam gehueteten Geheimnissen. Ob er sie jedoch richtig beraten hat, ist eine andere Sache, denn, welche Tortur ist schlimmer zu ertragen: Wilson’s Rache, oder jene des Verdurstens? Vielleicht hat Dan doch recht gehabt! 

Die Furcht, dass Wilson sie verfolgen koennte, verlor sich natuerlich, je weiter sie in den Berg vordrangen. Bald war er nur mehr eine ferne Erinnerung. Aber so ging es mit allem, man koennte sagen, gluecklicherweise. Weder Angst noch Zweifel, Schmerzen oder Hunger, ja sogar Durst, nichts behielt den Charakter einer wirklich unmissverstaendlichen Realitaet. Selbst das biologische Uhrwerk, das die Funktionen ihrer Koerper regulierte, musste einfach, nach anfaenglicher Panik, kapitulieren. Trotzdem! Es bemueht sich noch immer, so gut es eben geht, den Herausforderungen nachzukommen. Woher es seine Kraft nimmt, laesst sich nicht sagen, denn obwohl sie genug Nahrungsmittel mit sich schleppen, auf Grund strikter  Wasserrationierung waren auch diese nur beschraenkt verwendbar. Dementsprechend muessen sie ohne ausreichende Energiezufuhr auskommen. Der knurrende Hund in ihren Maegen und Gedaermen musste also bald einsehen, dass ihm sein Knurren nichts nutzte. Er liegt nun ergeben, ohne weiter zu jammern, auf jene Happen wartend, die ihm hin und wieder vorgeworfen werden, waehrend er sonst an seinen Pfoten kaut und dankbar fuer das bisschen Wasser ist, das ihn zumindest am Leben erhaelt. Dann gibt es auch noch andere Gefahren, von denen sie nie was gehoert haben, und die heimlich, still und leise, also wenig spektakulaer, den Tod bringen konnten. Manchmal schienen sie naemlich an Atemnot zu leiden und Femina glaubte einmal sogar, ersticken zu muessen. Rocky wusste darum und er vermied immer, sofern es eine Alternative gab, in tiefer gelegenes Terrain zu gehen, oder darin zu verweilen. Er fuerchtet, dass es dort giftige Luft geben koennte; vom Atem der Schlange, wie er es nennt, der sich in den Tiefen des Labyrinths angesammelt hat.

Femina bekuemmerte in zunehmenden Masse weder das eine noch das andere. Schon seit einiger Zeit empfindet sie eigentlich nichts wie Gleichgueltigkeit. Nicht einmal Oliver macht ihr Sorgen. Er haelt sich ohnehin viel besser, als sie je erwartet haette. Aber auch das war Rocky zu verdanken, denn was sie nicht in ihrer Reiseapotheke hatte, besass er, naemlich ein Saeckchen getrockneter Samen, die wie schwarze Linsen aussehen; eine Buschmedizin, die den Eingeborenen nuetzlich und heilig ist, da sie Leistungsfaehigkeit und Ausdauer steigert und daher fuer das Ueberleben im Busch eine wichtige Rolle spielt. Er kennt ihren Namen nur in seiner Sprache, aber er sammelt Vorrat ein, so oft er Gelegenheit hat, auch wenn er selber nicht mehr im Busch lebt. Sie hatte ihn sofort darauf hingewiesen, dass er besser vorsichtig sein sollte, was Oliver betraf und erklaerte ihm auch das warum und wieso. Er aber hatte nur gutmuetig gelaechelt und gemeint, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Er kenne seinen Freund und wuesste, wie er seine Medizin einzusetzen habe. Sie sagte dazu nichts mehr. Wie auch! Sie hatte von der lokalen Buschmedizin schliesslich keine Ahnung. Obwohl interessiert, wenngleich frustriert, sie behielt ihre kritischen Gedanken fuer sich und verschob es auf spaeter, ihn weiter zu befragen. Natuerlich war sie um Oliver besorgt und logischerweise ist sie vorsichtig, was „Buschmedizin“ angeht, denn jede Substanz, egal, ob natuerlich gewachsen oder im Labor hergestellt, wenn sie wirksam ist, hat sie auch Nebenwirkungen und mag unter Umstaenden toedlich sein. Sie musste jedoch akzeptieren, dass keiner der Maenner ihre gut begruendete Vorsicht in dem Masse schaetzte, wie sie es eigentlich verdiente. Sie war ja nur eine Fremde, ohne Kredentien, von der Strasse aufgelesen und zudem nur eine Frau, also nicht wesentlich und schon garnicht nicht ernst genommen, - in einer Gesellschaft mit Maennerwahn. 

Femina allerdings hatte von Rocky‘s „Medizin“ keinen Nutzen. Nicht, dass sie sie nicht probierte. Man schluckte eine solche Linse einfach mit dem bisschen Wasser, das Rocky ihnen, nach ihrem Schlaf und vor ihrem neuen Marsch, genehmigte. Unter normalen Umstaenden braeuchte man dafuer kein Wasser, nur, so ausgedoerrt und ausgetrocknet wie sie waren, - alles wuerde im Schlund stecken bleiben, egal wie klein. Sie wusste auch, dass ihr Koerper auf manche Arten von Drogen, heftigst reagierte. Und so war es mit dieser Buschmedizin, trotzdem sie vorsichtigerweise nur eine halbe Portion schluckte. Sie fuehlte sich bald wie eine ueberspannte Feder, die jederzeit losschnellen konnte, und dann wie ein aufgezogenes Uhrwerk, das automatisch dahinlief, waehrend ihr Herz rasend schlug und sie sich lieber in einen Abgrund stuerzen sah, als darauf warten zu muessen, bis ihr Herz sie in Stuecke zerriss. Freilich, sie musste durchhalten, auch wenn es ihr wie eine „Ewigkeit“ erschien, bis sich der Effekt verlor. Eines war jedoch bemerkenswert gewesen, sie hatte weder Durst noch Hunger verspuert und ihre Aufmerksamkeit war vollkommen intakt geblieben, von Muedigkeit keine Spur. Zu ihrem Bedauern war diese Buschmedizin nichts fuer sie und was Oliver anging..... Ach, was!..... Wenn Rocky glaubte, dessen Risiko besser einschaetzen zu koennen wie sie, warum nicht! Tatsaechlich war es eine erfreuliche Entwicklung, entledigte es sie doch der Verantwortung fuer ihn. Und soweit hat sich diese „Medizin“ als ungemein brauchbar erwiesen. Das schwaechste Glied in der Kette war nun aber sie. Dass sie fuer ihre Kumpane nicht zum Muehlstein wurde, war nur Oliver’s beschraenkter Sicht zu verdanken. Man konnte nicht riskieren, unvorsichtig zu sein. Ihr Gehtempo war daher wohl stetig, aber eben langsam, denn auch wenn es keine grosse Kletterei gab, die Wege waren nie ohne Gefahren, und das erst recht im fahl gruenen Licht.

Doch je laenger sie in dieser unterirdischen Welt dahin irrten und sich selber aufzuzehren begannen, desto weniger konnte die Wirklichkeit Forderungen stellen, zumindest nicht, was Geist oder Gemuet betraf. Ihre fehlende Prominenz machte Platz fuer interne Geistesspiele und auch wenn ihre Umgebung nur schwarzes Nichts war, in dem sie wie ein Gluehwurm ihr Leben signalisierten, in Femina‘s Kopf gab es zunehmend und immer mehr bunte Welten; surreal vielleicht und weder noch an Zeit oder Raum gebunden, also so frei, wie sie glaubt, dass der Kosmos ist. Sie spuert immer weniger Verlangen nach Sonne, Licht und laermenden Toenen. Die einzigen Sehnsuechte, die sie hat, sind nach Wasser, Rast und Schlaf. Freilich, ihr Verstand ist nun nicht mehr verlaesslich, aber sie hat den Bezug zur Umwelt noch nicht gaenzlich verloren, so dass sie in gewisser Weise funktionsfaehing ist und auch gut genug, um Hilfe geben zu koennen, sollte das notwendig sein. Und sie stimmt Rocky voellig zu, der systematisches Vorgehen fuer wesentlich haelt und sie alle einem strikten Regime von Gehen und Rasten unterwirft. Sie muss jedoch zugeben, dass es sie mehr und mehr Kraft kostet, die sie eigentlich nicht mehr hat.  

Was ihr allerdings wirklich abhanden gekommen ist, war ihr Zeitbegriff. Stunden, Tage oder was auch immer zu zaehlen, ist laengst kein Beduerfnis mehr. Was kann man hier drin schon mit sowas anfangen? Sie gehen, sie rasten, sie schlafen und wachen auf, wie Rocky das bestimmt. Er allein hat eine Uhr. Er erstellt die Plaene. Er verteilt die Leuchtstaebe, einen fuer die Nachhut, einen fuer ihn als Fuehrer, und nur er traegt eine Kopflampe, fuer alle Faelle. Sie schnallen sich aus Sicherheitsgruenden an das Seil, er an der Spitze, dann sie, danach Oliver und Ger am Ende, und dann trotten sie los, fuer was weiss sie wie lange. Sie halten an, wenn er es fuer richtig haelt, entweder fuer eine kurze oder eben lange Rast, oder wie der Weg oder ihre Kondition es zulassen. Er laesst sie immer rasten, wenn sie auf unvorhergesehene Hindernisse stossen, waehrend er sich davon macht, um auszuforschen, wie es weitergehen soll. Sie kann nie sagen, wie lange er abwesend ist, denn meistens verfaellt sie in einen geistigen Daemmerzustand, unwillig zu reden oder etwa hinzuhoeren, sollten die beiden Brueder, von den Drogen wachgehalten, es versuchen. Freilich, das war ohnehin nie mehr wie ein Kraechzen, ausgetrocknet wie sind, und nun bleiben auch sie viel oefter stumm. Warum auch nicht! Woruber koennten sie sich schon unterhalten? Dass sie bis jetzt nie klettern oder sich abseilen mussten, sich manchmal durch enge Passagen zwaengen, die immer enger werden, so dass man ganz sicher ist, irgendwann stecken zu bleiben? Oder dass sie vielleicht in einer Sackgasse enden oder jedes Bemuehen fruchtlos ist? Nicht doch! Es genuegt, zu rasten und dankbar zu sein, dass man noch immer am Leben ist. Sie waren nie stecken geblieben, sind nie in Spalten gefallen und nichts war bis jetzt wirklich unueberwindbar gewesen. Manchmal gibt es sogar kleine Kammern, in denen es fast heimelig ist und wo es sich ganz besonders gut ruhen laesst.

Ihr jetziger Weg ist der leichteste von allen, dank dem relativ glattwandigen Tunnel mit ebenem Boden, dem sie nun schon eine Weile gefolgt sind und der sich manchmal ausweitet, als gaebe es Blasen im Fels. Allerdings ist es Femina nicht entgangen, dass ihr Wasservorrat, bis auf eine letzte Flasche, erschoepft ist. Der Vorrat hat ohnedies viel laenger ausgereicht, als es ohne Rocky’s Buschmedizin moeglich gewesen waere. Doch nun haben sie kaum mehr genug fuer eine Handfull langer Maersche. Das Ende ihrer Flucht, oder soll sie sagen, das Ende ihrer Reise ist also nah. Reise? Flucht? Als ob da ein Unterschied waere, oder dieser was zu bedeuten haette! Easy Rider, Wilson, - nichts wie vage Bilder im Album ihrer Erinnerung! Abgesehen davon, niemand ist hinter ihnen hergewesen! Nie haben sie verdaechtige Laute gehoert! Jeder fallende Stein, jedes Knacken und Seufzen in Felsen und Hoehlen hatte natuerliche Ursachen, entweder von ihnen ausgeloest, oder weil der Berg sich dehnte und streckte und zusammenzog, als haette er seinen eigenen Atem. Vielleicht war ohnehin alles nur ein surrealer Traum. War sie nicht in diesem verrueckten Haus gewesen, aus dem sie nicht entkommen konnte? Vielleicht ist sie nach wie vor dort drin und versucht bloss, oder noch immer, sich aus dem Gefaengnis zu befreien? Vielleicht hat sie sich diese Tunnel selber gegraben, weil sich in diesem Haus weder Tore noch Fenster oeffnen liessen, aus denen sie entschluepfen konnte.  Nein, nein! Sie war doch in diesem Wartezimmer gesessen, bevor sie auf diesen trip ging, der mit  ‚easy rider‘ so wundervoll begann, aber in Flucht endete! Hat sie das alles nur getraeumt? Vielleicht kann sie deshalb nirgendwo ein Zeichen von Leben entdecken, nicht einmal Knochen, oder Wurzeln, ja nicht den geringsten Hinweis, das kleinste ausgetrocknete Ueberbleibsel von Leben, egal welcher Art. Ihre Ueberreste haben also die beste Aussicht als Nachweis fuer ein verirrtes Leben zu dienen! Ob in den Tiefen eines Berges oder im Keller eines dubiosen Hauses macht keinen Unterschied. Freilich, verrottet oder mumifiziert, sie wird letzten Endes zu Staub zerfallen und nichts, ja nicht einmal eine Spur wird von ihr uebrig bleiben, nichts jedenfalls, das ihre kurze Anwesenheit dokumentieren koennte oder ihren makabren Tod beschreibt.

Freilich, da sind ihre Kameraden. Ihre Anwesenheit spricht dagegen, dass sie sich im Keller dieses Hauses befindet und alles nur Einbildung ist. Ausser das Haus hat sie endgueltig verrueckt gemacht und sie leidet an Halluzinationen. Und was ist mit all diesen bunten Bildern in ihrem Kopf? Das bedeutet doch was! Ah! Sie war ja auf der Suche nach ihrem Gedaechtnis gewesen, das sie unter den Schichten all ihrer Erinnerungen vermutet, und das sie nach wie vor nicht wirklich ausgegraben hat, sondern immer nur Stueck fuer Stueck, grad so als waere sie ein Fossilsucher, der sich mit allerlei Fragmenten begnuegen muss, weil weder Erde noch Fels etwas hergeben wollen. Oder wer weiss, vielleicht ist dort, wo sie sucht, einfach nicht mehr zu finden? Nein, nein! Nicht weiter denken! Es bringt ohnehin nichts. Lieber der Stille zuhoeren und sich im Schwarz suspendieren! Lieber einen Schritt vor den anderen setzen! Dort liegt der Gewinn! So geht sie denn weiter, sich auf den Weg konzentrierend und auf jeden Schritt, bis keine Gedanken mehr Platz haben, ausser dem ‚linker Fuss, rechter Fuss, eins und zwei, linker Fuss, rechter Fuss und eins und zwei.........‘      

Und so trotted sie denn dahin, ungewiss wie lange, bis sie ploetzlich von etwas Ungewohntem aus ihrem tranceartigen Zustand wach geruettelt wird. Da ist ein Rumoren und ein vager ferner Ton. Etwas draengt sich in die Stille und durch das Gestein.

„Wruuum! Wrum! Wruuum! Bum, buum!“

Ihr Herz beginnt heftig zu schlagen. Hoert sie wirklich ein Geraeusch, oder ist es das Herz, das sie irrefuehrt mit seinem „bu-bum“, ohne einen wirklichen Grund zu haben?

„Wrum, wrum, wrum, buum, bum!“

Das ist keine Einbildung! Es ist eindeutig zu hoeren und es entschwindet nicht, ist also kein einmaliges Ereignis, dass man bezweifeln koennte. Nur was es ist, laesst sich nicht sagen. Trommeln? Unsinn! Donnerschlaege, Maschinen vielleicht? Nein, nein! Nichts dergleichen! Auch wenn es ein schwallartiges Droehnen hat, da sind vielerlei Toene, unterschwellig, vibrierend, fast wie dumpfe Paukenschlaege, mit hohlen Resonanzen. Nicht doch, – es ist mehr wie ein tiefes, langgezogenes „Tiiick---Taaack“, fast rythmisch, aehnlich dem ihren,  so wie sie sich fortbewegt. Sonderbarerweise erinnert es sie an eine Uhr, nur muss diese riesig sein, um Toene hervorzubringen, die einen Berg durchdringen koennen. Wie absurd! Femina gibt auf, weiter zu raten. Ihre Ohren jedoch, vollen Eifers hellhoerig geworden, registrieren die feinsten Schwingungen; ob sie von diesem oder jenem kommen, ist ohnehin egal. Wichtig ist, dass sie Etwas vernimmt, Etwas, das voellig unvereinbar ist mit den ueblichen, wenn auch seltenen Geraeuschen in Fels und Stein.

Und so dringt dieses buum-buum, und tiiick und taaack widerstandslos hinein in ihr Gehirn. Und so wie sie lauscht, zwingt es ihre verwirrten Gefuehle zur Ordnung. Sie formieren sich, bilden Schienen, werden zu Geleisen, gleich einer Bahn, auf der, wie auf einem Fliessband, Pakete transportiert werden, in regelmaessigen Abstaenden und in eine Richtung laufend, geradenweges, auch wenn es dabei rundum, nach oben und unten geht, durch Schaltstellen, manchmal zu Depots, oder zum Versand, wo aussortiert und gezielt verschickt wird. Sie koennten sogar vom Fliessband genommen werden, wie Gepaeck vom Flughafenkarussel, oder, sie drehen, unreklamiert, eine Runde nach der anderen. Das feed-back ihres Gehirns macht Femina klar: Hier handelt es sich um Zeit! Und was transportiert wird sind Zeitpakete!

Der Gedanke an Zeit laesst sie nun nicht mehr los, trotzdem sie hier drinnen mit Zeit und Zeitbegriffen, nur wenig anzufangen weiss. Aber ist sie nicht selber das Zeitpaket, das sich auf dem Fliessband ihrer Gefuehle stetig und unaufhaltsam nach vorne bewegt? Und das sowohl im geschlossenen System ihres Gehirns, wie im geschlossenen System des Kosmos!? Wohl mag ihr Verstand das Ticken der Uhr als Stationen des Augenblicks deuten, und ihr Bewusstsein mag sehr wohl dasselbe im Kosmos tun, - der Unterschied liegt nur in den Distanzen, die dabei zurueckgelegt werden. Aber ausschlaggebend ist einzig und allein das sich Fortbewegen, egal welche Richtung, doch immer nur nach vorne, immer voran. Dabei wird eine Linie beschrieben, eine Zeitlinie, um genau zu sein.  -  Das heisst also, die Linie ist der eindimensionale Ausdruck, das Rueckgrat, oder, die Essenz der Zeit. Egal ob die Trajektion dabei einen Kreis beschreibt, nach oben oder unten geht, egal wie schnell oder wie langsam das geschieht, egal ueber welche Distanzen, es geht immer nur in eine Richtung, geradenweges und auf einer Bahn. Zukunft, Vergangenheit liegen eindeutig auf derselben Linie, und wenn die Bahn kreisfoermig verlaeuft, wie im Schaedel, oder Kosmos, ermoeglicht das im Kreis gehen, dass man Vergangenheit vor sich und Zukunft im Blick zurueck sehen kann. Damit ist es aber nicht abgetan, denn geschlossene Systeme beinhalten Raum, und weil sie raeumlich sind mit ihren eigenen Trajektionen und Revolutionen, kann Zeit auch Gestalt annehmen, ohne dass sich ihre Essenz veraendert oder verliert. Kreisfoermige Bahnen sind keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil! Sie sind Voraussetzung fuer jede, ja alle Existenz, vom einfachsten Teilchen bis zum Kosmos; Existenz wiederum ist durch eine Dimension gekennzeichnet; jene, in der Femina zu Hause ist, hat vier, um genau zu sein, wobei Raum-Zeit die vierte Dimension ist. Wer koennte da nicht die Zusammenhaenge sehen und nicht verstehen, dass Vergangenheit in der Zukunft und Zukunft im Vergangenen zu finden sind und dass im Raum natuerlich alles gleichzeitig, sozusagen, nebeneinander besteht und dass die lineare Zeit der Faden fuer das Raum-Zeit Gewebe ist. Darin hat dann alles Platz und alles ist moeglich, trotzdem man sich auf der eindimensionalen Bahn bewegt. Es haengt also nur davon ab, von welchem Punkt im Raum man seine Reise wahrnimmt, wie man Zeit empfindet. Aber Zeit selber ist damit absolut und ebenso relativ, und obwohl es Anfang und Ende gibt, sind diese nur bedingt und umstandshalber von Bedeutung. Im Raum verliert sich die Wertigkeit, denn dort ist ja alles gleichzeitig. Kein Wunder also, dass Zeit einmal wichtig und dann wieder voellig unwichtig erscheint, nichtssagend oder vielsagend, fuer alle Existenzen, aber vorallem fuer den Menschen, dessen Verstaendnis und Empfinden von Zeit abhaengig davon ist, womit er Zeit verbindet, sei das mit Erinnerung oder seinen Zukunftswuenschen. Es ist, wie auch immer und vorallem, seine persoenliche Interpretation, die fuer ihn wesentlich und ausschlaggebend ist.

Sie muss sich also noch immer in diesem Haus befinden! Dort ist ja alles zweigestaltig, weil man nie die Einheit wahrnimmt, nie die Ganzheit sieht. Nur dort laesst sich Zeit als absolut empfinden, nur dort verschwindet deren komplexe Relativitaet im Geschehen, weil man dort die Aspekte der Zeit eben einseitig erlebt und immer alles separiert, auch wenn das garnicht stimmt oder notwendig waere. Freilich, in der Raum-Zeit Dimension haben sich endlich die Perspektiven geaendert, doch findet es der Verstand schwierig, wenn nicht sogar unmoeglich, damit umzugehen. Er bewegt sich schliesslich auf der Flaeche, wo seine Zeitschiene verlaeuft. Und weil es immer nur in eine Richtung geht, schaut er einfach gewohnheitsmaessig und vorwiegend in die Zukunft und reminisziert ueber Vergangenheit. Er ist gefangen in der eindimensionalen Bewegung und der zweidimensionalen Flaeche, trotzdem er sich im Raum bewegt. Raum hat fuer ihn nur eine bedingte Realitaet. So kommt es, dass der Mensch wohl gerne fliegen moechte und mit Hilfe seiner Intelligenz sogar erreicht hat, dass er es erleben kann, nur ist es nicht in seiner DNS, die ihn flugfaehig machen wuerde. Er kann daher theoretisch die Existenz anderer Dimensionen akzeptieren, aber alles was ueber drei Dimensionen hinausgeht, praktisch ueberfordert ihn. Wuerde er zum Beispiel gewohnt sein, mit Lichtgeschwindigkeit und im Weltraum zu fliegen, waere der Verstand darauf kalibriert und koennte besser akkomodieren, als er es, erdgebunden, schaffen kann. Auf Erden, der duennen Haut des feurigen Planeten, muss er mit anderen Problemen fertig werden, die selbst dort, genau genommen, ueber sein Verstaendnis hinausgehen.

Dieses seltsame Geraeusch und der Wasservorrat, der bald zu Ende geht, haben es also geschafft, ihren stoischen Geist zum Denken zu zwingen. Obwohl das voellig sinnlos ist, denn mit dem Denken aendert sich nichts an der Tatsache, dass sie bald zum Stillstand kommen wird. Sie wird sich weder fortbewegen, noch sich je wieder Gedanken machen muessen, was Ewigkeit oder ‚Ewiges Leben‘ ist. Sie wird es schliesslich erleben! Oder? Wie eine Irre beginnt sie zu lachen. Ihr Verstand treibt sie an den Rand des Zusammenbruchs. Vielleicht ist das der Preis, den sie zahlen muss, weil er grade seinen Horizont erweitert? Ob sie sich naemlich noch immer im Haus befindet, oder in dieser Unterwelt von Hoehlen und zeitloser Finsternis, ist gegenstandslos. Nur weil sie ihr Ende findet, egal ob hier oder dort, der Rest geht weiter, denn solange es Bewegung gibt, gibt es Leben und Zeit; ob das ewig oder endgueltig ist, haengt bloss von der Dimension ab, in der es sich grade befindet.

Buum, buum! Das dumpfe Toenen schwillt an, so wie sie auf ihrem Weg dahinstolpert. Es ist nicht nur zu hoeren, sondern auch zu spueren. Sein Vibrieren dringt durch Fels und Stein und dem Schein ihrer Lichter. Rocky haelt an. Er will auskundschaften, was es auf sich hat. Er hoert zwar nicht dasselbe wie sie, wie sich herausstellt, als sie ihn fragt, aber er hoert ein Toenen, spuert das Vibrieren und Droehnen, grad so wie sie. Oliver freilich scheint nicht in derselben Welt zu wandern, voellig sinnlos, ihn was zu fragen. Obwohl die Geschwulst in seinem Gesicht und um seine Augen geschrumpft ist und er nun wieder besser reden und sehen koennte, sein Gesamtzustand ist natuerlich nicht besser geworden. Er ist mehr Maschine, wie Mensch und dementsprechend willenlos. Wenigstens folgt er, wie ein Kind, Ger’s Anweisungen und er laesst sich auch sogleich lautlos neben ihm nieder, sobald dieser einen Platz fuer sie beide gefunden hat, wo sie sich ausstrecken koennen, ohne vorher Steine aus dem Weg raeumen zu muessen. Ger ist immer mehr am Wohlbefinden seines Bruder‘s interessiert, als an seinem eigenen und schenkt seiner Umwelt nur in diesem Sinne die notwendige Aufmerksamkeit, aber auch er hoert und glaubt, etwas zu spueren. Nur misst er dem wenig Bedeutung bei. Er habe, sagt er, manchmal Dinge wahrgenommen, die voellig wirklich erschienen, sich aber dann als Hirngespinste erwiesen. Darum war es ihm wichtiger geworden, sich auf Oliver zu konzentrieren. Er ist sein Sorgenkind, nicht, was wirklich oder Einbildung ist. Wie zur Bestaetigung streichelt er liebevoll Oliver’s Gesicht, waehrend er ihn besorgt ansieht und seufzt. Rocky gestattet ihnen allen einen Schluck kostbaren Wassers, bevor er sich davonmacht.

Femina, muede und ungesellig, will sich abseits von ihren beiden Kumpanen niederlassen. Sie befinden sich in einer glockenfoermigen Ausweitung des Tunnels, weit und hoch genug, dass die gegenueberliegende Wand und die Decke nur wie verwaschene, dunkle Schemen zu erkennen sind. Der Fels ist rauh, wie grober Sand, aber trotz felsiger Auswuechse und losem Gestein, nichts ist bruechiges Geroell und nichts ist scharfkantig. Eine Felsnase bietet ihr die Gelegenheit, sich gegen sie zu lehnen und in dem sie sich auf deren vordere Seite setzt, kann sie sich von ihren beiden Kameraden, zumindest visuell, trennen. Freilich, damit schaut sie geradewegs in den weit offenen, schwarzen Tunnelschlund, durch den Rocky soeben verschwunden ist. Das loest in ihr jedoch keine Bange mehr aus. Das Schwarz gehoert bloss zu einer anderen Welt mit anderen Modalitaeten, die einfach nur neuer Qualitaeten bedarf und anderer Funktionen. Sie mag zwar nicht genug Zeit haben, um ein echter Hoehlenbewohner zu werden, doch hat sie bereits Aenderungen erfahren. Wie zum Beispiel ihr Gehoer, das jetzt Geraeusche wahrnehmen kann, die weit ueber seine frueheren Faehigkeiten hinausgehen. Und was sie verspuert, ist geradezu sensationell. Alles hat eine derartige Intensitaet, ist qualitativ so beeindruckend, dass es sie nicht nur voellig entzueckt, sondern nahezu ueberwaeltigt. Freilich, das mag nur auf sie zutreffen, denn ihre Freunde scheinen nichts im gleichen Sinne zu erleben. Offensichtlich bewegt sich jeder, obwohl im gleichen Raum, auf einer anderen Bahn.

Ihre Augen starren auf das Schwarz vor ihr, waehrend Schallwellen und Vibrationen durch Gehoer und Koerper laufen. Obwohl etwas Stetes, da ist auch ein Kommen und Gehen. Kein Wunder, dass es sie an Zeit erinnert, das heisst, an ein Uhrwerk, um genau zu sein, an eines, das ein Pendel am Laufen haelt. Gewiss, keine Standuhr, die in eine Stube passt, wohl aber ein stolzer Uhrturm auf dem Dorfplatz, zur Bewunderung aller. Buuum...... buuum...... tiiiiiiick...... taaaack, bum, bum, tick, tack....., so schlaegt die grosse Pendeluhr, so hoert sie die Zeit in ihren Ohren. S’ist aber kein Wiegenlied, das sie schlaefrig macht, sondern es bringt ihr Visionen. Waehrend sie in die schwarze Oeffnung starrt, wird ihr naemlich langsam klar: Da ist gar kein Tunnel! Da ist tatsaechlich ein Turm, ein Turm auf maechtigen Sockeln! Und zwischen diesen und durch ihn verlaeuft der Weg, den sie noch gehen muss. Und da ist auch schon das riesige Pendel, mit einer grossen runden Scheibe am Ende seines steifen Arms! Es schwingt rythmisch von einer Seite zur anderen, wobei es immer wieder, langsam und stetig, den Zugang in den Turm verschliesst. Femina fragt sich, welche Zeit da wohl gemessen wird. Zukunft? Gegenwart? Vergangenheit? Buuum......Buuum! .....Tiiick......Taaack!

Wieviel ihres Weges hat sie bereits zurueckgelegt, wieviel ist noch zu gehen? AH, so ist‘s! Weder das eine noch das andere wird hier gemessen. Das Einzige, das hier zaehlt, ist allein der Augenblick, ein Punkt, ein Klick im Zahngetriebe, das mit den vielen, aneinander gereiht, ihren Weg verzeichnet. Was sich links und rechts vom Weg befindet, sie erinnert sich, kann bunt und vielfaeltig sein, oder es ist, so wie jetzt, nichts wie Stein und Schwaerze. Noch gibt es etwas Licht von Ger’s Stab, so dass sie die Richtung sieht, in die sie gehen wird, aber um einen Schritt zu machen, einen Punkt zu setzen, einen Augenblick nach dem anderen zu verketten, dazu braucht sie nicht einmal Licht. Ihr Realitaetsbewusstsein liegt naemlich auf dem Weg, auf dem sie sich fortbewegt, zwischen den Traeumen und Welten, zu ihrer Linken und Rechten. Es ist ein Koordinatensystem, auf dem und durch das sie geht und das entsteht, so wie sie wandert.

Koordinatensysteme! Turm und Pendel sind ein Koordinatensystem, grad so wie sie, mit seitlich ausgestreckten Armen. Auch der Turm steht senkrecht, so wie sie, nur sind seine Arme Steinsockelbeine, die fest verankert in den seitlichen Feldern stehen, aber, waehrend sie sich fortbewegt, bewegt sich das Pendel nicht vom Fleck, sondern nur von Seite zu Seite. Wie einfach doch die Wirklichkeit ist! Nichts wie Linien, Flaechen und Raeume! Zeit liegt auf der Linie, der Geist auf der Flaeche und die Erkenntnis im Raum, waehrend die vierte Dimension Bewegung ist, das „Perpetuum Mobile im Geschlossenen System“; Raum-Zeit, eine Einheit, die expandieren kann, ohne dass es das Prinzip veraendert, ohne dass sich das Prinzip veraendert. Aber Bewegung ist die Voraussetzung fuer alles. Ohne sie bleibt die Uhr stehen, hoert das Denken auf und Gut und Boese halten sich die Waage.

Femina steht auf. Wie in Trance wandert sie hin zum Turm bis knapp vor dessen Eingang. Das Schwingen des Pendels hat einen betoerenden Klang und wird immer lauter. Es schwillt ab und an, echot von der riesigen Scheibe. Im rythmischen Hin und Her, im langgezogenen Tick und Tack, versperrt es den Weg in regelmaessigen Intervallen. Aber nichts anderes hat mehr Platz in ihren Ohren, nichts anderes hat Platz in ihrem Gehirn. Da ist nichts mehr, wie der dumpfe Schlag und sein dumpfes rythmisches Droehnen. Es kann nicht schwierig sein, durch die Zeit zu gehen. Sie braucht nur auf den geeigneten Zeitpunkt, den richtigen Augenblick zu warten, naemlich, wenn die Scheibe sich vom Eingang entfernt, um ihren eigenen Hoehen zuzustreben, einmal links und einmal rechts, auf dieser und jener Seite.

Dass sie vorm entscheidenden Schritt zoegert, ist mehr auf Gewohnheit zurueckzufuehren, als dass es logisch waere. Unbekanntes loest immer Unbehagen aus. Mit dem Bekanntem arrangiert man sich und das Vergangene ist frei von Angst. Was geschehen ist, laesst sich  nicht aendern und selbst das Schmerzhafte verliert sein Drama, ausser man wehrt sich, es loszulassen. Das Loslassen ist natuerlich das wirkliche Problem, selbst wenn es sich nur um seine Aengste handelt. Und leider! Manchmal ist es leichter, wenn nicht sogar notwendig, dass man sich an nichts erinnern kann. Man wuerde andernfalls das Loslassen nicht schaffen und nicht in Frieden existieren koennen, bei dem Leid, das man erfahren, oder anderen angetan hat. War das vielleicht der Grund gewesen, warum sie sich ploetzlich ohne Gedaechtnis fand? Schon moeglich, nur, herausfinden wird sie es jetzt ganz gewiss nicht mehr. Jedoch der Zukunft, die ihr nun verbleibt, mit Vorsicht begegnen zu wollen, ist wirklich sinnlos. Ihr Zoegern kann demnach nur dem Umstand zugeschrieben werden, dass ihr Verstand nicht mehr so recht funktioniert und daher vieles, wenn nicht alle Kontrolle den Reflexen und Instinkten obliegt, also jenen alteingefahrenen Mechanismen, die im Notfall als Autopilotensystem agieren, mit dem sich organisches Leben seinen Fortgang sichert, bis hin zum letztmoeglichen Augenblick.

Wenn nun aber Zukunft und Vergangenheit schon keinen besonderen Wert mehr haben, wie steht es dann mit dem, was jetzt ist? Hat das wenigstens noch eine Bedeutung? Es hat, zumindest fuer eines, naemlich, dass sie Bilanz ueber ihr Leben zieht, bevor sie sich auf ein neues, wenn auch ihr letztes Abenteuer einlaesst. So fragt sie sich denn, was sie mit ihrem Leben gemacht hat, was es ihr gebracht hat. War es sinnvoll gewesen, hat es seinen Zweck erfuellt? Hm! Die Ereignisse der letzten Zeit, haben ihr recht wenig Gelegenheit gegeben, nach ihrem Gedaechtnis zu suchen. Das war doch der Zweck und Sinn ihres Lebens gewesen, soweit sie sich zurueck erinnern kann. Zwar hat sie Fortschritte gemacht, doch, zugegeben, sie ist nicht immer mit Ernst bei der Sache gewesen. Nur jetzt, mit dem Wasservorrat beim Auslaufen, muss sie sich schon fragen: Was hat sie erreicht? War es die Sache ueberhaupt wert gewesen? Wieviel hat sie das Muehen und Vergnuegen gekostet? Und gibt es offene Rechnungen, (die sie allerdings nicht mehr begleichen wird koennen)?

Sie kichert ploetzlich in sich hinein. Das sind wohl die duemmsten Fragen, die sie sich stellen kann. Selbstverstaendlich war es die Sache wert gewesen und ja, die Muehen und das Vergnuegen haben ihr Leben gekostet, und offene Rechnungen gibt es haufenweis. Aber sie hat getan, was sie tun musste und tun konnte. Und sie hat alles Leben geliebt. Zudem war ihr die Reise stets wichtiger gewesen, als das Ziel. Es ist also keine Tragoedie, dass sie auf der Strecke liegen bleibt. Und die offenen Rechnungen sind keine Schuld an anderen, sondern nur ihr Problem. Sie wird eben in Ignoranz sterben muessen, weil ihr noch immer viel zu viel von ihrem Gedaechtnis fehlt. Und das hat nichts mit guten oder schlechten Erinnerungen zu tun. Die sind ohnehin bloss Sediment, in Schichten aufeinander gelagert. Was sie gesucht hat, waren ihr Ursprung, ihre Herkunft, die Fundamente, auf denen sich die Sedimente ablagern konnten und was sie zu dem gemacht hat, was sie ist. Sie muesste also wirklich tief graben, um ihre Antworten zu finden. Nur warum ueberhaupt? Was motivierte sie? War es ihr Verstand gewesen, der Gewissheit haben will, nicht bloss einen bequemen Glauben? Nein, nein! Nicht nur! Der Verstand hat wohl Dominanz in ihrem Leben, aber er ist nicht sie. Er ist Diener, nicht Herr, auch wenn er sich manchmal als Herrscher aufspielt. Die Suche nach dem Gedaechtnis war die Suche nach ihrer Identitaet und das heisst,  s i e  will nicht spekulieren,  s i e  will verstehen und  s i e  braucht die Beweise. Ihr Verstand ist ihr nur behilflich dabei. Ist dieses Wissen wollen ihr Klotz am Bein? Gewissermassen und doch nicht! Aber erst jetzt ist ihr klar geworden, dass das, was sie nur in der Vergangenheit zu finden glaubte, auch in der Zukunft zu finden ist. Sie hat also den Fehler gemacht, Widerspruch zu sehen, wo eigentlich nie einer war. Nur, jetzt, wo sie feststellt, dass Zeit zwar eindimensional, aber in allen Dimensionen zu Hause ist, dass sie Gestalt annehmen kann und dass die Dimensionen festlegen, wie man sie defininiert, misst und erlebt, (sei das in Linie, Flaeche, Raum und Bewegung), jetzt kann sie sich zu dieser Erkenntnis zwar gratulieren und sich auch darueber freuen, nur sind ihrem Erfreuen Grenzen gesetzt, denn  Zeit,  i h r e  Zeit, ist beim Auslaufen und wichtig ist garnichts mehr. Also warum nicht einfach rasten? Warum ueberhaupt noch einen Schritt tun?

Sie seufzt tief auf. Ach! Sie moechte doch so gerne noch einmal ans Meer, mit Fischen schwimmen, unter Palmen am Strand liegen, wo sie den Voegeln zusehen oder Sterne zaehlen kann! Sie moechte so gerne noch einmal mit der Sonne lachen, im Mondlicht tanzen und mit dem Wind die Wolken jagen! Ein neuer Seufzer.

„Ach was! Zum Teufel mit dem Zoegern, mit Angst und Eigennutz!“ Dem Gluecklichen und dem Toten schlaegt keine Stunde! Und zu bereuen hat sie nichts!

Ihr Herz beginnt heftig zu schlagen, ihre Muskeln spannen sich. Tick und Tack hoert sie das Pendel sagen und so wie sich seine Scheibe vom Eingang entfernt, springt sie nach vor, hinein in den dunklen Schlund, hinein in den offenen Rachen. Buum, buum.

Das Pendel kommt zurueck und macht den Eingang wieder dicht, nur diesmal klingt es, als falle ein eisernes Tor ins Schloss, als sei es der Schlusspunkt eines Satzes. Und sie wird gewahr, wie hier drin wirklich alles so ganz anders ist, nicht neu und doch anders. Kein Ton, kein Licht, nur grenzenloses Schwarz. Nun ist sie wirklich allein im Nichts und das Nichts ist ploetzlich Alles. Es ist das Einzige, das ihr nun geblieben ist. Erstaunen steigt in ihr hoch. Nicht nur Zeit, Alles ist ohne Bedeutung! Waehrend das Nichts als Sieger truimphiert, dekoriert mit der Pendelscheibe um seinen Hals, erkennt sie, wie widersinnig ALLES ist! Da geht sie durch die Zeit, bloss um herauszufinden, dass  S I E  das einzig Wichtige ist, ohne jedoch die geringste Macht zu haben.

Aber was nun? Sie streckt die Arme aus. Freilich, da ist nichts! Und so zoegert sie wieder, sie weiss nun naemlich nicht, ob, oder in welche Richtung sie gehen soll. Doch halt! Ist sie nicht in diesem Turm? Da gibt es doch Waende, an denen sie sich entlang tasten koennte, oder? Die sind doch etwas, woran sie sich orientieren kann! Freilich! Vielleicht hat sich bereits alles in seine Bestandteile aufgeloest, zerfallen in unsichtbare Teilchen. Ihre Sinne sind jetzt ja arbeitslos, denn im Nichts gibt es keine Signale. Oder fuehlt sie deshalb nichts, weil sie dabei ist, ihre eigene Substanz zu verlieren und damit ihre eigenen Funktionen? Ohne etwas Greifbarem ist schliesslich Alles verloren, auch das, was sie zusammenhaelt. Ah! Das ist  noch nicht der Fall, denn noch spuert sie den Boden unter sich. Erleichtert laesst sie sich nieder, um ihre Gedanken zur Ordnung zu zwingen. Aber nun spuert sie Kaelte auf sie einstroemen, und zwar so aggressiv, als wolle diese Besitz von ihr nehmen, sie einfrieren oder zu Packeis machen. Ihr Koerper, so wenig davon auch uebrig ist, ist jedoch nicht bereit, sich einfach zu uebergeben. Er wehrt sich und schuert das bisschen Glut, das unter der Asche verborgen liegt, indem er sie ruettelt und schuettelt. Wollte sie nicht ans Meer? Ja, das will sie! Und sie will auch in die Berge! Sie will doch von einem Traum in den anderen huepfen, und dem Traum Leben geben! Sie will auch noch in den Wiesen springen und Blumen riechen und wie der Schmetterling mit seinen bunten Fluegeln dem Leben das Traeumen vorspielen!

Eine Woge ploetzlicher Energie laesst sie hochspringen und riesige Saetze nach vorne machen, nur um letztendes gegen eine Felswand zu prallen. Sie taumelt, verliert ihr Gleichgewicht und trotzdem sie instinktiv am Fels Halt sucht, kann sie den Sturz nicht verhindern, nur seine Vehemenz. Nun hat sie ihre Begrenzung, das Greifbare, an dem sich ihre Existenz reflektieren kann und messen laesst! Sie steht allerdings nicht mehr auf, sondern lehnt sich nur gegen die Wand. Der Energieschwall hat sich verzogen, so schnell wie er gekommen ist und hat dabei den Rest ihrer Kraefte mitgenommen. Sie findet es nun zu muehsam, sich noch einmal hochzurappeln. Was solls! Sie glaubte, durch den Turm gehen zu koennen, doch was man glaubt, ist nicht Wissen.

Ihre Finger gleiten ueber den Fels, ueber Flaechen, Kerben, Fugen und Falten. Dabei wird ihr klar, es ist die Wechselbeziehung ihres Selbst zum Aeusseren rund um sie, das die Grundlage ihrer Aktionen, in der Tat, ihres Lebens ist, -  nichts wie ein geladenes Teilchen, das durch Anziehung und Abstossung staendig in Bewegung bleibt, das sich auf einer Bahn befindet und einen Weg hinter sich beschreibt. ES ist aber voellig gleichgueltig durch welche Raeume sie sich bewegt, ob die ihr gefallen, oder auch nicht. ES ist urteilslos. ES ist objektiv. Sie ist es, die bewertet, sie ist subjektiv. Da befindet sie sich in einem lichtlosen, pechschwarzem Raum, und doch, er ist voll Leben und voller Farben, auch wenn sie weder das eine noch das andere mit ihren Sinnen wahrnehmen kann. Sie ist voellig allein, voellig isoliert und stellt  zufrieden fest, dass nichts negativ ist, noch destruktiv, sondern bloss eine notwendige Erfahrung. ES zwingt sie, ES hilft ihr, Gedaechtnis und Heimat zu finden. Es ist eine Mutprobe, ein Einweihungsritual und Zeit spielt keine Rolle. Sie laechelt und schliesst die Augen. Sie ist muede. Sie will schlafen. Aber nein, es gelingt ihr nicht, denn sie ist nicht mehr alleine.

„Und Gott schuf das Weib, damit Adam nicht so einsam sei.......!“ Wie bitte? Wer redet da und noch dazu solchen Unsinn?

Femina schuettelt den Kopf und lacht wie ueber einen surrealen Witz, wie jenem, wo ein U-boot im Wald ein anderes U-boot trifft und ihm ein ‚Hallo‘ zuruft, worauf das andere U-Boot  fragt: ‚Warum gerade ich?‘

„Nun lieber Gott“ sagt das Weib. „Jetzt musst du mir aber einen Mann schaffen, damit  i c h  nicht so alleine bin.“

Femina findet das erst recht amuesant und obendrein gerecht, denn Adam hat zu viele Fehler, ein neuer Adam her.

„Und wo bleib ich“, meldet sich der alte Adam.

Nachdenkliches Schweigen, dann sagt das Weib sachlich: „Du hast die Wahl! Musst dich allerdings aendern.“

Adam nimmt sich aufgeregt das Feigenblatt vom Penis und fuchtelt wild damit umher, nicht wissend, was er damit anfangen soll, oder gar, was er selber will. Dann haelt er inne, starrt auf das Blatt und wirft es schliesslich weg. Enttaeuscht laesst er sich zu Boden sinken, weil das Weib ihn nicht akzeptiert.

Femina hat ihm zugesehen und laechelt in sich hinein. Ja, er ist ein schoener Mann. Gott hat sich einen schoenen Adam gemacht, nur fuer das Weib ist er nicht geeignet, so reagiert es jedenfalls. Heisst das vielleicht, Gott ist ein Fehler unterlaufen? Ist Gott gar homosexuell, nicht nur homophil? Sie betrachtet den lieben Gott. Warum auch nicht? So wie er sich gibt, oder zumindest wie er sich presentiert, da ist sicher was Wahres dran. Er gleicht eher antiken Goettern oder griechischen Philosophen, weisser Rauschebart, weisses Haar, und so wuerdig und wohlwollend. Man weiss ja aus der Geschichte, die griechischen Philosophen waren den Jungs nicht abgeneigt. Sie lacht noch mehr: Gott ein Homophiler und ein Homosexueller! Die alten Griechen gefallen ihr, Zeus, Hera, Sokrates oder wie sie eben heissen; sie hatten menschliche Goetter.

Und so schuf die Goettin sich Eva, und damit diese nicht so alleine sei, gibt sie ihr den Mann. „Ich will aber keinen Mann, gib mir lieber eine andere Eva!“ sagt da Eva.

„Mit Adam kannst du dir viele Evas machen, so wie er sich mit dir viele Adams schafft!“

„So ein Bloedsinn,“ antwortet Eva. „Gott und Goettin tun’s scheinbar nicht miteinander. Da sollte ich mit Adam.......?“

„Selbstverstaendlich!“ erwidert die Goettin. „Gott und Goettin sind Eins. Nenn uns XY! Wir brauchen nicht zwei zu sein, um Eines zu schaffen.“

„Ph!“ macht Eva, „warum gibt’s dann nicht das yy, es gibt doch das xx? Dieser Adam ist doch fehlerhaft, er ist doch nur ein xy.“

Die Goettin laechelt nachsichtig: „Dafuer besteht keine Notwendigkeit, aber vorallem, weil ein y bereits genug Schaden anrichten kann. Stell dir vor, es gaebe einen yy Adam! Oder gar einen YY Gott! Keine Welt, in der sich harmonisches Leben entfalten koennte! Um aber Zweigestaltigkeit zu schaffen, genuegt xy neben dem xx allemal. Zudem ist es unser Abbild, das Symbol der Einheit. Uebrigens! Das xx ist der Boden, aus dem sich das dazugehoerige y formt. Es macht den Mann sinnbildlich zur Krone der Schoepfung, aber es ist das Weib, das ihn gebaehrt. Doch weder er noch sie sind alleinige Herrscher, weder er noch sie haben alleinige Macht. Nur wir, die eine Einheit sind, koennen das reklamieren. Nur wir koennen Dualismus, mit beiden Aspekten von maennlich und weiblich, in Union demonstrieren, nur wir sind XY, Er sowie Ich.“

Adam hat still mit grossen Augen zugehoert. Der liebe Gott ist, zufrieden mit sich, einfach  eingeschlafen. Eva betrachtet Adam forschend und sagt dann zur Goettin:

„Na wenn du meinst......., huebsch ist er ja, - eigentlich ist er ein recht schoener Mann.“ Sie laechelt ihm zu. Er laechelt zurueck. Sie reichen sich die Hand und verschwinden. Die Goettin wirft einen Blick auf Gott und verzieht veraechtlich ihren Mund. Sie verlaesst ihn, er ist ein Langweiler, schlaeft zuviel. Aber wenigstens stoert er sie nicht in ihrer Arbeit.

Dann ist ploetzlich wieder alles schwarz, grad so, als waere da nie was anderes gewesen. Zeiten wandern vorbei. Femina kann sie nicht sehen, nur spueren und hoeren kann sie nur ihren Koerper, denn rund um sie ist es still. Sie schliesst erneut die Augen, auch wenn es keinen Unterschied macht! Freilich!  Vielleicht kann sie jetzt doch schlafen. Aber nein! Daraus wird wieder nichts.

„Femina!“ Fern, doch eindeutig, hoert sie jemanden nach ihr rufen. Schlagartig richtet sie sich auf und reckt den Kopf. Sie muss wohl dahingedaemmert haben!

Hat sie getraeumt, dass sie ihren Namen rufen gehoert hat? Sie lauscht und da hoert sie es wieder: „Femina!“ Diesmal ist es lauter und naeher und sie erkennt auch die Stimme. Gordon!?  Wie kommt er hierher?! Sie will antworten, doch sie kann nicht. Die Worte bleiben an ihren Lippen lautlos und wie festgeklebt haengen. Und dann taucht er aus den schwarzen Schatten wie eine wundersame Vision, so wirklich und so nahe, dass sie ihn fast anfassen kann. Er ist in seinen ausgewaschenen Jeans und schwarzem Singlet. Seine Haut ist braun und schimmert ueber seinen Muskeln und aus seinen eignenartig schoenen Augen glaenzt glasgruen das Meer. So hat sie ihn kennnengelernt und so hat sie ihn geliebt und jetzt ist er ihr wieder so nahe. Wie konnte sie vergessen, wie schoen er war.

„Femina!“ sagt er wieder. Seine Stimme ist eindringlich.

„Ich bin hier,“ antwortet sie. Aber er kann sie nicht hoeren und es scheint, auch nicht sehen. Er setzt sich nieder, nicht weit von ihr, mit verschraenkten Beinen, nur sitzt er seitlich abgewandt. Sie sieht ihn, sie hoert ihn, sie glaubt sogar, das Meer an ihm zu riechen. Und doch! Zwischen ihnen liegt etwas Trennendes. Es koennten Welten sein, oder auch nur ein Graben, oder eine hauchduenne Plasmawand, sie hat dafuer keine Erklaerung, aber es ist so wirklich, wie wundersam.

„Femina“, wiederholt er, „ich bin auf der Suche nach einer Insel fuer uns zwei. Ich bin ganz krank vor Liebe zu dir. Das musst du mir glauben, auch wenn wir im Moment verschiedene Wege gehen. Ich bin zerrissen zwischen dem, was ich tun muss und meiner Sehnsucht nach dir. Aber ich kann zumindest nach einer Insel fuer uns zwei suchen und wer weiss, vielleicht steh ich schon morgen wieder vor deiner Tuer, weil ich ein Leben ohne dich nicht laenger ertrage.“

Er spricht so, als saesse er ihr gegenueber, waehrend er an ihr vorbeispricht und seine meergruenen Augen an ihr vorbei schauen.

„Ich glaub dir ja,“ antwortet sie tonlos und ist seltsam traurig. Viel ist geschehen, seit sie sich getrennt haben. Sie liebt ihn, das steht fest, nicht nur er sie. Aber wohin schauen seine meergruenen Augen? Dass er sie nicht sieht, kann sie verstehen, doch nicht, dass er nicht in ihre Richtung schaut. Sie lehnt ihren Kopf an die Wand und senkt die Lider.

Sie sieht ploetzlich die Goettin wieder, lustwandelnd in ihrem Garten, waehrend Gott friedlich schlaeft. Gott oder Goettin, XY, ein Symbol der Einheit, der eigentliche Zwitter, den man mit Recht in alten Kulturen als Gott verehrt. Das menschliche Wesen dagegen, der dualistischen Welt der Materie angehoerend, ist notgedrungen und notwendigerweise zweigeschlechtlich, denn die beiden Geschlechter representieren Polaritaeten, zwischen denen eine Wechselbeziehung besteht. In den Genen allerdings liegt die fundamentale Erinnerung des XY, das Goettliche, das Gott und Goettin ist. Man bedenke, jeder Mensch hat maennliche wie weibliche Anlagen, die sich, durch spezifische Hormone gelenkt, ins eine oder andere Geschlecht entwickeln. Die Bibel mit ihrer Geschichte von der Rippe ist zwar nicht voellig sinnlos, aber nicht gerade ein akkurates Analogicum. Tatsache allerdings ist, dass der Drang der beiden Geschlechter, sich vereinen zu wollen, biologisch festgelegt ist und dass in ihrem Zwischenspiel jene Spannung liegt, dessen Aktionen die Essenz fuer neues Lebens ist, waehrend im Orgasmus die Verzueckung liegt, eins zu sein und die Potenz Eines zu schaffen. Orgasmus, Urknall? Es gaebe die Welt nicht ohne sie!

Femina gluckst vergnueglich, denn ihr faellt ploetzlich ein, wie goettlich die Schnecke ist. Deren Liebesleben muss ja sehr interessant sein, ist sie doch ihr eigener Partner, und ein Einsiedler par excellance, schleppt sogar ihr eigenes Haus mit rum. Freilich, ob sie deswegen zu beglueckwuenschen oder zu bemitleiden ist, laesst sich wohl nicht beurteilen. Dazu muesste man schliesslich eine Schnecke sein.

„Femina!“ hoert sie Gordon’s Stimme rufen. „Wo bist du?“ Suchend dreht er seinen Kopf hier hin und dahin und schliesslich sieht er in ihre Richtung. Wie schoen seine Augen sind! So gross und so weit und so wundersam gruen. Sie sind das Meer, zu dem sie will.

„Ach Gordon,“ sagt sie traurig, „such die Insel, mach was du willst! Was ist Liebe? Ich bin voll davon und trotzdem, ich kann sie nicht kennen, denn sonst muesste ich sie doch erkennen! Deine Liebe ist so ganz anders wie meine, aber trotzdem ich dir glaube, dass du mich liebst und trotzdem ich weiss, dass ich dich liebe, wie kann unsere Liebe dann verschieden sein? Erinnerst du dich an unser Spiel, wo wir uns ein Tier aussuchten, das uns representieren sollte? Du wolltest ein Delphin sein, und du warst auch einer. Nur was ist geschehen? Ich seh noch immer das Meer in dir, aber ich seh keinen Delphin. Es stimmt mich so traurig, traurig fuer dich und traurig fuer mich. Die Welt ist doch ein riesiger Tummelplatz, - und heisst der Delphin nicht auch „Tuemmler“?“

„Delphindame an Delphin – wo bleibst du – stop – siehst du nicht die show laufen? – stop – Ende.“

„Bin beschaeftigt - stop – Ende“

„Womit – stop – Ende.“

„Insel finden fuer uns zwei – stop – Ende“

„Aber wir schwimmen doch an ihnen vorbei – stop – warum suchen – stop – Ende“

Er schuettelt vielsagend den Kopf. Sie steigt aus dem Meer seiner Augen.

„Du erkennst nicht meine Liebe zu dir?“ sagt er. „Wie seltsam! Schau in den Spiegel! Kennst du dich nicht?“ Er bleibt still und wartet.

Doch sie ist verwirrt. Sie horcht in sich hinein. Der letzte Satz resoniert in ihr wie ein Echo, das nicht zur Ruhe kommt.„I c h  b i n  d e i n e  Liebe?“ wiederholt sie, das ‚bin‘ betonend, aber es ist keine wirkliche Frage, sondern eher der Versuch, sich selber Klarheit zu schaffen.

Als sie ihm keine Antwort gibt, fragt er sie schlieslich: „B i n  i c h  n i c h t  deine Liebe?“

Zoegernd antwortet sie: „Ich hab noch nie so darueber nachgedacht. Ich liebe einfach, ich gebe meine Liebe weiter. Ich liebe dich, das heisst, ich gebe dir meine Liebe. Aber  bist  du meine Liebe? Ich weiss nicht! Ich komm mit dem Text nicht klar!“

„Macht nichts,“ sagt er gutmuetig, „ich geb dir alle Zeit, darueber nachzudenken.“

Nun ist es wieder ganz still. Nur sie hoert nicht auf zu traeumen vom gruenen glasklaren Meer. Irgendwo da draussen spielt eine Schar Delphine. Sie sieht ihre Leiber im Sonnenlicht glaenzen und dann wieder schattengleich im Wasser dahinfliegen. „Oh Gordon!“ seufzt sie. „Ich wuerde so gerne mit dir lachen und dich lieben!“ Doch Gordon ist verschwunden und rundum ist es schwarz.

Der harte Stein, auf dem sie kauert, bohrt sich in ihren mageren Koerper und erinnert sie daran, wie weit weg sie ist von Licht und Schatten, ja von allem, das einmal ihre Welt war. Wo sind wohl ihre Kameraden? Sie tasted um sich und spuert die Wand hinter ihr. Genug, um sich zu erinnern, wo sie ist, nur hat sie jetzt keine Orientierung. Egal in welche Richtung sie auch ginge, sie wuesste nicht, ob sie Ger und Oliver finden wuerde, die sie, wer weiss wann, zurueckgelassen hat, oder, ob sie auf Rocky stossen koennte, der irgendwann sie zurueckgelassen hat, um nach etwas zu suchen, was auch immer das war. Richtig! Sie ist in den Uhrturm gegangen. Sie hat alles zurueckgelassen, nicht nur Zeit! Nur irgendwo muss doch das Uhrwerk sein! Sie horcht angestrengt. Nichts ist zu hoeren. „Hallo Sensenmann!“ ruft sie. „Du kannst dich nun ruhig zeigen. Du bist doch irgendwo hier drin, nicht wahr? Wirf deinen schwarzen Mantel ab, zeig dein Gesicht, auch wenn du nur ein Haufen Knochen bist, deine Gesellschaft ist mir hoechst willkommen!“ Sie wartet. Doch Sensenmann kommt nicht. Wahrscheinlich will er sie eines Besseren belehren, naemlich, dass man im Sterben alleine ist. Es mag troestlich sein, wenn einem dabei jemand die Hand haelt, oder vielleicht auch nicht, wenn man das Weinen und Trauern der Zurueckbleibenden vernimmt. Wie dem auch sei,  niemand kann mit einem gehen und vielleicht ist das Alleinsein doch am besten. Nichts stoert, nichts lenkt ab, nichts haelt zurueck.

‚Wie lange wird es wohl noch dauern‘, fragt sie sich ungeduldig. Worauf wartet sie! Sie will nicht warten! Besser, sie konzentriert sich auf ihren Atem. Besser mit sich im Frieden sein, Frieden drinnen, Frieden draussen, Wellen, die in die Ferne laufen.

Aber da ist ploetzlich Gordon wieder. Nur diesmal ist er nicht allein und da ist auch kein Meer. Sie sitzen sich an einem Spieltisch gegenueber, als waeren sie in einem Kasino und sie hat ein Paeckchen Karten in der Hand. Sie mischt, teilt aus. Ihre langen Haare glaenzen und werfen Schatten ueber ihre Augen. Er sieht ihr zu, schweigsam, reglos, unnahbar. Das ist eine Runde mit Pokerface, allein des Spieles wegen, denn der Einsatz ist ungenannt.

„Spielmann!“, ruft sie ins Schwarz. „Spielmann! Spiel mir das Lied vom Tod!“ Und waehrend eine Mundharmonika von Hass und Vernichtung erzaehlt, pokern sie.

„Zwei Karten!“ sagt er. Eine fuer sie. Aber es ist nur ein Bluff, denn sie hat garnichts und eine Karte macht da gewiss keinen Unterschied. Sie beobachtet ihn mit halbgeschlossenen Augen  aus dem Schatten ihrer Haare. Kann sie ihn lesen? Er sitzt da wie Stein, mit starrem Gesicht und Pupillen wie Stecknadelkoepfe, so klein. Sein kahler Kopf glaenzt metallen. Pokerface! Aber dann fuehlt sie sein Herz schlagen und den Hauch seines Atems. Es wird ihr mit einem Mal klar: Er geht durch eine Hoelle. Sie schaut ihre neue Karte an. Nun, jetzt hat sie ein zweites As. Er sitzt noch immer regungslos.

„Also,“ sagt sie. „Dein Einsatz!“

Forschend sieht er sie an, seine Augen gleich gruenen Flammen. Dann legt er die Karten nieder.

„Ich will nicht mit dir spielen!“ sagt er bestimmt.

„Du meinst, du koenntest verlieren?“ fragt sie kuehl

Er schuettelt heftig den Kopf. „Nein,“ sagt er, „verstehst du denn nicht? Ich liebe dich. Ich will die Insel fuer uns zwei!“

„Nein,“ erwidert sie. „Ich verstehe dich nicht.“ Doch auch sie legt die Karten nieder.
„Spielmann,“ ruft sie erneut ins Schwarz. „Spiel mir noch einmal das Lied vom Tod.“ Aber da kommt keine Melodie mehr, denn auch der Spielmann ist tot.

Sie streift die Karten zusammen und steckt sie gedankenverloren weg. Ist sie eine Spielerin? Ist nicht Gordon der Spieler? Seltsam! Sie sind beide Spieler, nur spielen sie aus anderen Gruenden und mit verschiedenem Einsatz. Er will eine Insel suchen! Gewiss, es ist fuer sie zwei. Aber! Waehrend er sucht, laesst er sie allein! Auch sie laesst ihn allein, aber nicht um eine Insel zu finden, sondern weil es Umstaende gibt, die nichts anderes zulassen. Sie  ist seine Liebe? Warum sucht er dann nicht sie? Und er? Ist  e r  ihre Liebe? Nein! Sie liebt ihn von Herzen, aber es ist ihre Liebe, die sie gibt. Er spielt um eine Insel und sie ist sein Einsatz. Sie spielt um ihn und setzt ein, was ihr zur Verfuegung steht.

Sie stehen auf. Hand in Hand schreiten sie in einen Saal, wo Roulette gespielt wird. „Rien ne va plus“ hoert sie den Groupier sagen. ‚Klick‘ macht die fallende Kugel, springt unruhig herum, waehrend das Rad sich dreht und der Ton der rollenden Kugel schliesslich langsam verklingt und mit einem „pop“ zur Ruhe kommt. Dann ist es wieder ganz still.

„Ach Gordon“, sagt sie, „vergiss die Insel! Lass uns doch einfach nur zusammen sein!“

Doch Gordon ist nicht an ihrer Seite, noch ist da ein Casino. Sie ist allein, irgendwo, nirgendwo, in einer schwarzen lautlosen Welt, wo sie nichts anderes tun kann, wie traeumen. Und sie traeumt von einem gruenen glasklaren Meer, in dem die Delphine spielen und sie ist mitten drin.

Da gibt es Traeume im Leben, die man wohl nie verwirklichen kann. Oder vielleicht bedarf es mehrer Leben, um zumindest einen wahr zu machen. Oder vielleicht ist alles nur ein Traum. Vielleicht wacht sie auf und stellt fest, dass nichts, was sie glaubt erlebt zu haben, tatsaechlich stattgefunden hat, dass sie weder ihr Gedaechtnis verloren, noch je in einem Haus gewesen ist, das sie gefangen gehalten hat, noch, dass sie sich im Inneren eines Berges befindet und ihr Leben verliert.

Doch der Traum ist so wirklich! Der Steinboden, auf dem sie sitzt ist so hart, dass sie unruhig geworden, von einer Seite zur anderen wetzt. Ihre Sitzpolster sind weggeschrumpft und die Haut ueber den Knochen ist wund. Und da ist auch eine Wand in ihrem Ruecken! Das kann kein Traum sein! Nur, wo ist sie? Ach richtig, sie war im Zeitturm, wo es keine Zeit gibt! Sie wollte bloss durchgehen, nicht verweilen. Nur! Die Uhr ist stehengeblieben Es gibt kein weitergehen mehr. Tatsaechlich! Gordon ist besser dran, nach seiner Insel zu suchen. Hier drin mit ihr waere er verloren. Sie faengt zu lachen an, lautschallend. Es wird von den Waenden zurueckgeworfen, so dass es der reinste Irrsinn ist. Freilich! Wahnwitz und Irrsinn gehoeren zusammen und sie lacht noch mehr, denn wahrlich, wirklich, verrueckt oder nicht, alles ist zum Lachen und wenn sie schon nicht der Narr ist, dann ist sie sicher ein Clown.

Sie kramt in ihren Taschen, ohne zu wissen, warum. Sie ist im Besitz eines alten, zusammen geknuellten Papiertaschentuches, einem Minifeuerzeug und einem Stift. Sie probiert das Feuerzeug, aber es hat ausgedient. Sie laesst es achtlos fallen. Der Stift ist allerdings sehr brauchbar. Es ist ein Fuellstift, wie sie an seiner weichen Spitze erkennen kann. Warum er allerdings in ihrer Tasche ist, das hat sie vergessen.

Nun! Sie hat zwar kein Papier auf das sie etwas zeichnen oder schreiben koennte, aber sie hat genug Waende, die tuns auch und sie macht sich sofort daran, Theorie in die Praxis umzusetzen. Sie kritzelt ein paar Buchstaben : - ‚Femina‘ -  Wow! Der Filzstift malt leuchtend gruen. Phantastisch! Damit kann sie ihre Zelle gestalten, ja umgestalten zu allem, was ihr einfaellt. Sie zieht ein paar Linien, rauf und runter und schraeg zusammen, sie laesst Berge entstehen und dann Daecher und Wolkenkratzer, New York flimmert in gruen. Und dann hat sie es mit Palmen und einer gruen bestickten Oase und dann malt sie einen Baum mit Voegel darin. Darunter ist wohl eine Kraehe, denn sie schreit kraechzend und aufgeregt, und darauf folgt hysterisches Lachen. Kookaburras!* Ein Schwarm flattert und schaekert im gruenen Laub, so dass sich die Kraehe lieber davonmacht. Wahrscheinlich gefaellt ihr der Witz nicht, ueber den die Kookaburras so lachen, oder sie hat keinen Sinn fuer Gelaechter und laermender Nachbarschaft. So gut Femina die Party im Baum auch gefaellt, sie zieht mit ihren Filzstift zu einer anderen Wand. Sie malt eine grosse Tuere mit einer handlichen Klinke in einer ihr gefaelligen Hoehe, so dass sie sie leicht fassen kann. Sie betrachtet die Tuer vor sich, bewundert ihr Kunstwerk, denn die Konturen scheinen geradezu dreidimensional zu sein und flirren wie eine Leuchtreklame in wundersamem Gruen, vorallem die Klinke, die sie voll ausgemalt hat. Fasziniert und spasseshalber fasst sie sie an und trotzdem es nur Licht ist, in das sie greift, es macht ploetzlich „Knacks“ und die Tuer oeffnet sich. „Mein Gott“, sagt sie erstaunt. „Lassen sich alle Gefaengnisse so leicht oeffnen?“ Ah richtig, sie ist nicht im Gefaengnis. Da ist ja eine offene Tuer! Vielleicht ist Gefaengnis ohnehin nur ein anderes Wort fuer Resignation. Jedes Gefaengnis laesst sich schliesslich oeffnen, und sei es auch nur mit einem Gurt um den Hals.

Sie rappelt sich hoch, kann sich aber nicht auf den Beinen halten. Und durch die offene Tuer stroemt noch mehr Licht, und zwar so hell, dass sie ihren Kopf verbirgt, denn ihre Augen vertragen diese Helligkeit nicht. Und die Kookaburras lachen noch immer wie verrueckt. Vielleicht lachen sie ueber sie, oder darueber, dass Tag und Nacht eine Muenze mit zwei Seiten ist. Das  i s t  ein Scherz! Oder? Denn so zweigestaltig, wie sie sich zeigen, sind sie doch nur 24 Stunden, nicht mehr wie eine Erdrotation. Warum wohl sonst wuerden die Kookaburras so unbaendig lachen!

Sie vermeint einen grossen schwarzen Vogel aus dem gruenen Laub auf sie zufliegen zu  sehen. Er breitet seine Schwingen aus und ploetzlich fuehlt sie sich hochgehoben und fortgetragen, ihr Koerper warm und wohlig zugedeckt von weichen Federn und zum Schutz fuer ihre Augen. Nicht lange, dann legt der Vogel sie in sein warmes Nest. Da sind noch zwei andere Junge und sie alle sind hungrig.

„Trink Femina,“ hoert sie den grossen Vogel sagen und er floesst ihr Wasser ein. Das Nass ist das Koestlichste, das sie je zu sich genommen hat. Es breitet sich aus in ihrem Mund wie sanfter Regen. Risse und Spalten fuellen sich, jeder einzelne Tropfen ein Labsal und sobald sich ihre Schleimhaeute gesaettigt haben, bleibt genug uebrig fuer ein Rinnsal in den Schlund. Ein Schluck, zwei Schlucke, drei Schlucke, mehr, mehr will sie haben, aber sie kriegt nicht mehr.

„Das ist fuer’s erste genug,“ sagt der Vogel. „Sorg dich nicht! Du kriegst soviel du willst, nur brauchst du etwas Geduld, bis dein Koerper besser damit fertig wird. Schlaf nur, ruh dich aus. Wir sind gerettet! Wir muessen nur etwas Zeit erlauben, so dass wir uns anpassen koennen, ohne Schaden zu nehmen.“
Was fuer einen schoenen Gesang dieser Vogel hat. Er erinnert sie an eine Stimme, eine dunkle warme Stimme. ‚Gerettet‘, hat er gesagt. Was er damit wohl meint? Ah, er hat recht! Sie muss etwas schlafen. ‚Sie braucht sich nicht zu sorgen‘, hat er gesagt. Er wird ihr bringen, was sie braucht.
                                                                               *
*) Kookaburra oder Lachender Hans, australischer Vogel

 
                                                                                  
                                                                                 
         

                          

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