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DNS II, Kapitel 6, Teil 3

Veröffentlicht von am in Buch Kapiteln

 

Baba stupst Femina leicht an. Sie war nachdenklich geblieben, starrt noch immer auf den Vorhang, als sei dort eine Nachricht geschrieben. Sie schaut zu Baba, der ihr vergnuegt zu verstehen gibt, wie sehr er die Vorfuehrung genossen hat. Mit seinem breiten Lachen und belustigt funkelnden Augen vertreibt er ihre Nachdenklichkeit. Er wiederholt den letzten Akt des ‚Todesstosses‘ und verdreht dabei seine Augen, aber nicht um das Sterben zu mimikrieren, sondern als Kommentar an der Tat, als wollte er sagen, dass er diese Aktion ganz besonders lachhaft fand. Offensichtlich amuesierte ihn die Vorstellung mehr als ihn der Inhalt interessierte, - im Gegensatz zu ihr. Aber es tut ihr gut, dass er sie daran erinnert, wie wenig es der Worte bedarf, um sich mitzuteilen und was es heisst, mit seinen Augen zu sehen.

Der Vorhang oeffnet sich wieder. Baba wendet sich sogleich der Buehne zu, in kindlich freudiger Erwartung, neugierig grad so wie sie.

Das Buehnenbild ist unveraendert. Schwarz sitzt nach wie am Tisch, und Weiss ist zurueckgekommen. Allerdings hat er am schwarzen Sessel Platz nehmen muessen. Auch die Tanzfiguren sind auf der Buehne, versammelt hinter den beiden Maennern, jedoch auf der Seite gemaess ihrer Farbe, sodass sich die schwarze Mannschaft hinter Weiss befindet und die weisse Mannschaft hinter Schwarz. Ein Summen kommt von ihnen, einem Chorgesang gleich, aber dann beginnen sie in monotonem Klang zu sprechen:

„Die Zeit unserer Vereinigung ist gekommen. Lasst uns Bilanz ziehen, ueber das was so lange gueltig war. Weiss hat unser Vertrauen verloren, Schwarz hat uns noch nicht ueberzeugt, aber die Zeit der Aufklaerung ist gekommen, die Zeit fuer Erkenntnis und Wahrheit ist reif.“

Weiss hebt seine Hand zum Zeichen, dass er zu sprechen wuenscht, was man ihm auch gewaehrt. Seine Stimme ist dunkel und klingt muede, doch liegen darin gefuehlsreiche Vibrationen, die aufhorchen lassen und seine Worte glaubhaft machen.

„Ich bekenne mich schuldig,“ sagt er. „Ich habe euch und mich selbst betrogen. Ich habe mich einer Maechtigkeit geruehmt, die mir nie zustand. Anstatt auf Wahrheit zu bestehen, habe ich mich blenden lassen und bin dabei erblindet, ertrunken in der schieren Beweihraeucherung, die man mir dargebracht hat. Obwohl die Trennung in Schwarz und Weiss der Schoepfung dient, die Ignoranz der Unschuldigen hat mich betoert und mir die Schluessel der Vollmacht in die Hand gedrueckt, die alles, was mir nicht gehorchte, verbannt und ausgeschlossen hielt. Aber nichts von dieser Macht gehoert mir rechtens. Wohl bin ich maechtig, aber ich bin nicht absolut und ich bin Diener, nicht Herr. Ich bin schuldig und das Wissen um meine Schuld hat mich verbittert, hat es doch die bestehende Moral verhaertet und mich zum Sklaven meiner Anbeter gemacht. Ich bitte aber um Nachsicht und Verstaendnis, denn meine urspruenglichen Intentionen waren gut, und nicht alles was die Welt durch mich erreichen konnte, ist schlecht, oder ein Misserfolg. Bruder, ich habe mich in meinem Zorn an dir vergangen. Ich finde keine Worte, die meiner Reue gerecht werden koennten. Allerdings weiss ich nur zu gut, wozu dich deine Macht befaehigt und ich habe ernsthaft geglaubt mich gegen dich verteidigen zu muessen. Ich habe impulsiv gehandelt, ohne Ueberlegung. Ich bitte um deine Vergebung.“

Seiner Rede folgt unmittelbar Schweigen, dann entsteht ein Raunen unter seinem Gefolge. Schliesslich tritt die weisse Koenigin hervor und begibt sich in die Mitte des Schachfeldes, so dass alle Anwesenden sie uneingeschraenkt sehen und hoeren koennen. Sie beginnt auch sogleich zu sprechen. Ihre Stimme ist warm und weich, hat jedoch eine Entschlossenheit in sich, die ueberrascht.

 Liebe: „Der weisse Koenig ist schuldig, aber so bin ich. All die Zeit habe ich ihm gedient mit einer Treue, die nur ich zu geben vermag und ich habe geschwiegen zu seinen Fehlern, was mich mitschuldig macht. Mit meiner, ja mit aller unserer Hilfe konnte geschehen, was Weiss nun zum Angeklagten macht. Niemand aus unserer Schar hat sich je gegen ihn ausgesprochen, daher hat niemand von uns Grund, ihn zu richten. Zudem hat er sich mit seiner Tat bereits selbst gerichtet. Aber lasst uns nicht daran verweilen! Nicht nur, weil das Geschehene nicht rueckgaengig gemacht werden kann, sondern vorallem weil es uns nun vorwaerts schreiten laesst, zum Wohle aller. Ich bin froh und erleichtert, dass ich nicht mehr das allumfassende, selbstlose, sich aufopfernde, stets vergebende Ideal sein muss, von dem Verstaendnis und volle Hingabe erwartet wird, egal wie unlogisch und fragwuerdig das auch sein mag. Gewiss, niemand sollte meinetwegen leiden oder sterben, doch ist es unvermeidlich, egal wie sehr ich auch versuche, dies zu verhindern oder die Tatsache verleugne.“ Sie wendet sich an die Zerstoerung: „Komm Bruder, Demolierer und Vernichter, ich habe dich vermisst. Ich bin ohne dich nur die halbe Wahrheit. Du befreist mich vom Glanz falschen Goldes, denn die Reinheit absoluter Liebe ist nicht in der Materie zu finden, die aber unsere Welt ist.“

Der Aufgerufene, ein huehnenhafter Mann, tritt vor, entledigt sich seiner diversen Waffen und Sprengstoffarsenals, zumindest jenem, das man sehen kann, und geht dann zur Koenigin. Er nimmt ihre ausgestreckte Hand, verbeugt sich wie ein Kavalier, bevor er zu sprechen beginnt. 

Zerstoerung: „Danke Schwester! Danke dir fuer deine Aufrichtigkeit und fuer deine Liebe. Ich habe dich immer gebraucht und ich brauche dich mehr als je zuvor. Ohne dich bin ich nicht aufzuhalten, denn ich bin das Feuer, das, wenn entzuendet, ausbrennen muss, und das alles verschlingt, was in seinem Wege steht. Nur du kannst mir Grenzen setzen. Du bist das Wasser, das mein Feuer loeschen kann. In der Tat, nur mit dir kann ich die Welt leben lassen. Komm, tanz mit mir, zur Feier dieses Tages.“

Und so tun sie denn auch. Femina ist entzueckt. Sie liebt naemlich den Tanz mehr als alle andere Arten der darstellenden Kunst und sie ist auch nicht enttaeuscht von dem, was die beiden hier mit ihrem Tanz zum Ausdruck bringen. Am Ende bleiben sie in der Mitte des Feldes stehen, ineinander verschlungen, Wange an Wange, mit geschlossenen Augen, ein Bild vollkommener Harmonie.

Die Zufriedenheit tritt vor und stellt sich neben das Paar. Sie ist so duenn und  doch so suess in ihrer einfachen Kleidung, ohne Schmuck und ohne Make-up. Ihr Gesicht ist jung und sanft, und sie ist hochgewachsen wie ein Ried, das sich mit dem Wind dreht und wendet, ohne je von ihm gebrochen zu werden. Sie koennte jedoch ein bisschen mehr Futter vertragen.

Zufriedenheit: „Ich bin so froh, dass die Zeit unserer Vereinigung gekommen ist. Endlich kann ich meine Schwester in die Arme nehmen, die ich so vermisst habe. Ohne sie bin ich wie totes Holz, Treibholz im Wasser des Lebens, ohne Ziel, ohne Richtung, ein Unding, ohne Inhalt oder Sustanz. Komm Schwester, du betoerende Verfuehrerin, du gibst meinen Wangen Roete und du kannst in meinen Armen Ruhe finden.“

Die schwarze Koenigin folgt dem Aufruf. Wiegenden Schrittes, das Haupt hoch erhoben, schaumgekroente Wellen laufen ihrem Strande zu. Sie stellt sich neben die Zufriedenheit, einen Arm um deren Schulter, mit der anderen nimmt sie deren Hand.

Versuchung: „Liebste Schwester, auch ich habe dich vermisst. Ohne mich kann die Welt nicht voranschreiten, doch ohne dich bin ich ein Fass ohne Boden, das letztendes immer leer bleiben wuerde und somit seinen Sinn verliert. Nur mit dir kann sich die Welt ihres Fortschritts erfreuen. Komm, tanz mit mir, zur Feier des Tages.“

Und das tun sie denn auch. Sie tanzen ihren Pas de Deux und stellen sich dann neben das erste Paar, ineinander verschlungen, Wange an Wange, ein Bild vollkommener Harmonie.

Die Ueberlieferung tritt vor, Fundament und Festung des weissen Systems. Es ist der Priester in vollem Ornat, schlank und herrisch, sich seiner Wuerde und Wichtigkeit bewusst. Er schreitet selbstbewusst an den rechten Rand des Spielfeldes in Liene mit den anderen Paaren.

Ueberlieferung: „Ich weiss nicht, ob die Zeit wirklich reif ist fuer unsere Vereinigung. Meine Macht ist ungebrochen, denn noch gibt es keine bessere Antwort fuer die Massen, die ohne Fuehrung verloren sind. Die Welt braucht mich genauso wie am Anfang ihrer Zeit. Doch wenn ich zurueckblicke auf die Jahrtausende, getraenkt in Blut und Traenen, dann fuehle ich wie schwer meine Schultern unter der Last meiner Schuld geworden sind. Mein Wort war absolut, kam es doch vom weissen Koenig, dessen Vertreter auf Erden ich bin. Allerdings! Ich habe meinen Bruder, den Zweifel ausgeschlossen, und damit unendlicher Grausamkeit freien Lauf erlaubt. Es hat mich zum Inquisitor, Henker und Scheinheiligen gemacht. Ich habe Kasteiung und Entsagung gefordert, aber nie Erloesung gebracht. Mein Bruder, komm, ich will dich nicht laenger ausschliessen, ich will nicht laenger kalt und unnachgiebig sein. Auch wenn ich nicht recht an eine neue Weltordnung glaube, sie kann keineswegs schlechter als die alte sein. Sie sollte zumindest Gelegenheit haben, zu zeigen, was sie erreichen kann.“

Der Zweifel folgt der Aufforderung, schreitet geschwind auf die Ueberlieferung zu. Femina ist sich garnicht sicher, ob er nun Mann oder Frau ist. Gross und schlank mit der Maehne eines Pferdes, in weiten Hosen und weitem Hemd oder Bluse, nichts laesst auf ein bestimmtes Geschlecht schliesen. Selbst das Gesicht, schoen wie es ist, koennte sowohl Frau wie Mann sein. Auch das Schwarz der Kleidung ist nicht nur schwarz. In der Bewegung glaenzt es sogar manchmal wie oberflaechlicher Schnee auf den die Sonne faellt, dann wieder schimmert es silbrig, ist aber pechschwarz in den Falten und den Schattenseiten. Er, oder sie, nimmt die Ueberlieferung ungestuem an die Hand.

Zweifel: „Mein Bruder, endlich kommst du zur Vernunft. Ich kann dir garnicht sagen, wie ungeduldig ich auf diesen Moment gewartet habe. Ohne mich bist du der Hypokrit, den keine wahrheitsliebende Seele ernst nehmen kann. Freilich, ich bin ohne dich wie der Samen, dem das Ei fehlt. Aber zusammen sind wir die besten Eltern fuer eine neue Brut. Komm tanz mit mir, zur Feier dieses Tages.“

Das tun sie denn auch. Ihr Pas de deux ist exquisit, aber das waren bisher alle. Sobald der Tanz endet, stellt sich das Paar in Reihe mit den anderen, ineinander verschlungen, Wange an Wange, in voelliger Harmonie.

Die naechste Figur, die sich aus der weissen Spielerschaft loest, ist die Moral, eine hohe hagere Gestalt, im richterlichen Ornat und das Haar unter der obligaten Peruecke verborgen, die die Zinnen des Turmes wie eine Krone traegt. Das Gesicht ist das eines Mannes, streng und hart, intelligent und kalt, kein Gesicht, von dem man sich ein mildes Urteil erwarten wuerde. Er geht zur Mitte des Spielfeldes, stellt sich dann aber an den linken aeusseren Rand in Reihe mit den anderen Paaren.

Moral: „Es faellt mir schwer zu glauben, dass die Zeit reif ist fuer unsere, oder gar meine Wiedervereinigung. Wie kann ich ploetzlich den Teil meines Ichs lieben, den ich so lange mit aller Macht von mir ausgeschlossen habe?! Die  Kaempfe werden weitergehen, bloss die Kampfstaette aendert sich. Anstatt auf der Weltenbuehne, werden sie nun im Kopf stattfinden. Unmoral, du bist meine andere Haelfte. Aber ich bin nicht sicher, ob mein Gewissen mir je die Erlaubnis gibt, dich zu lieben. Das beste, das ich dir anbieten kann, ist Toleranz. Ausser du bist faehig, Kompromisse zu schliessen, dann mag es schon sein, dass unser Verhaeltnis sich bewaehrt.“

Die Unmoral tritt vor und folgt ihm nach, stellt sich schraeg und seitlich vor ihn hin. Sie ist eine vulgaere Schoenheit, in den Kleidern einer Dirne, ihr langes Haar im Ponytail, wie der buschige Schweif eines wilden Pferdes. Ihr Gang provokant, ja ihr ganzes Wesen ist herausfordernd, aber auch selbstsicher, und ihr Schritt war kraftvoll, keinesfalls leicht aus der Fassung zu bringen. Sie ist ganz gewiss kein Wesen, das sich uebertoelpeln oder gar unterkriegen laesst. 

Unmoral: „Ich verlange nicht nach deiner Liebe. Es genuegt, dass du mich anerkennen musst. Ich habe keine Angst vor deinem Gewissen; im Gegenteil; es reicht fuer uns beide. Es wird meine Intelligenz komplementieren, waehrend ich dich hindern werde, es weiterhin wie eine Peitsche zu verwenden, wenn es tatsaechlich der Selbsterkenntnis dient. Du sagst, du kannst mich nicht lieben? Wer sagt, dass ich dich lieben kann?! Du bist in deiner Selbstherrlichkeit monstroes  und ueberheblich. Du bist ganz und gar nicht liebenswert. Aber ich nehme unsere Vereinigung mit Freuden an, auch wenn wir uns sehr wohl weiter streiten werden, solange jedenfalls, wie es braucht, bis du die ganze Wahrheit akzeptieren kannst. Du hast dich ohnehin nie voellig von mir befreien koennen, auch wenn du das nicht zugeben willst.“ 

Mit einem raschen Griff fasst sie nach Kopfstueck und Peruecke, reisst beide triumphierend von seinem Kopf und wirft sie in hohem Bogen hinter sich. Es entbloesst eine Glatze, die voller Taetowierungen ist. Der hehre Richter sieht ploetzlich nicht mehr so ehrenhaft aus. Sie faehrt fort: „Toleranz, Kompromisse, das ist schon recht und gut. Es ist zumindest die Grundlage, auf der sich eine solide Ehe schmieden laesst. Allerdings nur, wenn sie von beiden Seiten kommen!“ 

Diesmal gibt es keinen Pas de Deux. Die beiden Figuren stellen sich Ruecken an Ruecken, ihre Seiten dem Publikum zugewandt, ihre Koepfe aneinander gelegt und ihre Arme ineinander verschlungen. Ihre Augen schliessen sich und sie verbleiben still und regungslos, eine Figur mit zwei Gesichtern.

Die schlanke weibliche Gestalt, die naechstens vortritt und den anderen Paaren auf dem Spielfeld folgt, ist die Gerechtigkeit. Sie traegt eine lose Tunika eingehalten von einem breiten Guertel, mit einer grossen Guertelschnalle in Form einer Waage in dessen Mitte. Ihre Augen sind von einer weissen Binde bedeckt, doch das Haar gleicht der Maehne eines Pferdes. Sie ist halb Goettin, halb Pferd, das Scheuklappen traegt.

Gerechtigkeit: „Seit unserer Spaltung habe ich die Schalen meiner Waage mit den Paragraphen des Gesetzes gefuellt, um das Urteil nicht durch Emotionen zu verfaerben. Damit aber wurde ich zum Handlanger der herrschenden Macht, denn Gerechtigkeit, die nur dem Worte folgt, wird zur Farce, indem sie Recht und Unrecht zum Wortspiel macht. Emotionen lassen sich kontrollieren, aber Worte kann man verdrehen. Das hat dem Hass reiche Ernten gebracht, denn Emotionen, auch wenn man glaubt, man hat sie weggeschlossen, wirken fort; - sie sind die ‚Muehle Gottes, die langsam, aber sicher, mahlt“. Doch ich bin der Wolf unter den Schafen, mit einer Stimme gleich Oel, in dem all die Worte fliessen, so glatt, dass es mein Heulen zum Wiegenlied macht. Komm Hass, mein verpoenter Bruder, wir gehoeren zusammen. Nur ich kann mit deiner Aggression umgehen, nur du schaffst es, meine Augen der Wahrheit zu oeffnen, so dass niemand auf Grund meines Urteils zu leiden hat.“

Der Hass loest sich aus seiner Spielerschar, ein Baer von einem Mann, mit langem schwarzen Kopfhaar und schwarzem Haar, das seinen Koerper bedeckt, als trage er ein Fell, seine Fuesse und Haende gleich Tatzen mit Fingernaegeln so lang, dass sie tatsaechlich Krallen sind. Das Gesicht eine Fratze, die einem das Gruseln lehrt. Daemon, oder Perchte, rette sich wer kann, wenn er nur laufen kann.

Hass: „Ich folge dir gerne, Schwester, doch bedenke, ich bin gefaehrlich. Ich kann dich in Stuecke reissen, wenn du nicht achtsam bist. Du kannst mich allerdings zum Schlafe wiegen, aber nur, wenn du deine Scheuklappen abnimmst. Du musst sehen, so dass ich meine Augen schliessen kann. Komm, Schwester, lass mich die Binde entfernen und dann lass uns tanzen, zur Feier dieses Tages.“

Waehrend seiner Rede war er auf Libra zugegangen und stellt sich hinter sie. Seine haarigen Arme umfassen sie und er scheint etwas in ihr Ohr zu fluestern, dann nimmt er ihr die Augenbinde ab. Neues Leben scheint ploetzlich in ihr hochzuwallen. Sie lacht, entschluepft seinen Armen, nur um ihn bei der Hand zu nehmen, um mit ihm den Pas de Deux zu tanzen. Und was fuer ein Tanz es auch ist! Sie sieht neben ihm wie eine Puppe aus und doch ist sie es, die den Tanz bestimmt. Der Hass, der Baer, Libra seine Domptoese. Kraft und Verstand, Gefuehl und Weisheit vereinen sich. Am Ende stehen sie mit den anderen Paaren in Reihe, ineinander verschlungen, der Hass hinter Libra, Wange an Wange, mit seinen Haenden an der Guertelschnalle. Er mit geschlossenen Augen, doch ihre weit offen und mit einem Laecheln auf dem Mund, sie sind ein Bild der Harmonie.

Drei Paare und die Koenige fehlen, um die neue Formation zu vervollstaendigen. Femina wirft einen Blick auf Baba, und wie auf ein Zeichen, wendet er sich auch ihr zu und beide lachen sich vergnuegt zu. Fuer mehr bleibt nicht Zeit, denn die naechste Figur ist bereits nach vor getreten.

Es ist der Gehorsam. Er ist kein impossanter Mann, eher von bescheidenem Aeusseren, dem niemand besonderes Augenmerk schenken wuerde, waere er nicht in Uniform. Er raeuspert sich, scheint zuerst ein wenig unsicher, gewinnt aber zunehmend an Elan.

Soldat: „Es faellt mir schwer, die rechten Worte zu finden, denn all die Jahre war „Jawohl, mein Kommandant!“ genug fuer mich. Ich wurde zum Gehorchen trainiert, nicht zum Denken. Denker sind keine guten Soldaten, so sagt man, aber auch nicht jeder Kriegsheld verdient das Lob, denn er mag bloss Leben verachten, ist gehorsam bis in den Tod. Komm nun, Ungehorsam, mein Bruder, die Zeit der Erkenntnis ist gekommen! Wir beide sind Opfer und Schuldige, Manipulierte und Taeter. Du bist der Kriminelle, der gegen die bestehende Ordnung verstoesst, meistens weil du nicht nachdenkst, manchmal weil du dir das Denken nicht abgewoehnen kannst. Tatsaechlich ist es nicht immer unsere Schuld, wenn du ueber die Gesetze stolperst, oder ich mich im Kriege befinde, denn jede Gesellschaft hat die Kriminalitaet und die Kriege, die sich nicht verhindern lassen, oder die sie verdient. Die Gesellschaft hat uns die Verantwortung abgenommen, denn sie entscheidet ueber Gesetze, Krieg und Frieden. Damit faellt es leicht, sich in der Anonymitaet oder im Paragraphenwald zu verstecken. Freilich, unsere Vereinigung setzt dem ein Ende. Wir sind verantwortlich fuer alle unsere Taten. Jeder einzelne muss sich Rechenschaft geben, jeden Tag, und nicht erst vorm imaginaeren Juengsten Gericht. So gesehen gibt es fuer unsere Taten wohl Erklaerungen, nie aber eine Entschuldigung.“

Der Ungehorsam tritt vor, eine verwegene Figur, die trotz des tadellosen Anzuges und den Lederschuhen, keinen vertrauenserweckenden Eindruck macht. Vielleicht liegt das an den vielen Ketten, Ringen und Ohrringen, die er traegt und an den Taetowierungen an Haenden und Nacken, die darauf schliessen lassen, dass er mehrere am Koerper hat. Statt eines Hutes traegt er allerdings, die seinem Rang entsprechende Bischofskappe.

Ungehorsam: „Bruder, ich danke dir fuer dein Vertrauen, doch sei gewarnt, ich bin nicht leicht in Ketten zu legen. Ich will immer ausbrechen. Ich bin immer auf der Suche nach Neuem, immer gegen Ordnung, immer bereit, ein Risiko einzugehen, immer bereit, einen Gewinn zu machen. Ich will frei sein, tun und lassen koennen, wie und was ich will. Freilich, wir beide zusammen koennen Berge versetzen, aber du must lernen, ‚nein‘ zu sagen, auch wenn ich mich dagegen wehre. Es ist deine Disziplin, die mich an dich zu binden vermag und die uns beiden Richtung geben wird, so dass wir auf jener Strasse wandern, die uns zu unserem ‚El Dorado‘ fuehrt. Komm Bruder, tanzen wir, zur Feier dieses Tages.“

Der Tanz ist kein harmonischer Pas de Deux, viel eher ein bruederliches Geraengel, aber beide haben ihren Spass dabei, beenden den Tanz in Gelaechter. Sie stellen sich mit den anderen in die nun sich verdichtende Reihe, Seite bei Seite, in bruederlicher Umarmung, durchaus friedlich, und in Harmonie.

Die Verantwortung ist die naechste Figur, die nach vorne tritt, wuerdevoll, mit festem Schritt. Sie ist eine alte Dame mit schlohweissem Haar, ihr Gesicht, trotz der vielen Falten, schoen und liebenswert und mit warm scheinenden Augen. Sie ist die weise Alte, oder auch die gute Hexe aus den beliebten alten Maerchen.

Verantwortung: „Lange schon habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Kummer und Sorge haben mich staendig begleitet und manchmal schier erdruecken wollen. Nur mein Vertrauen in mich hat mir geholfen, diese traurigen Zeiten zu ueberdauern. Endlich kann ich das Vergnuegen, meine Siblingschaft, in die Arme schliessen. Wir werden Lachen und Frohsinn bringen, allen Dingen, all dem Sein einen neuen Sinn geben. Ohne mich ist die Welt verloren in unsinnigem Getriebe und nutzloser Voellerei, mit uns zusammen kommt das Geniessen, was das Leben erst lebenswert macht.“

Unter der Schar der Figuren, die das Vergnuegen representieren, entsteht ein belustigtes Palaver, bis schliesslich der Clown unter allgemeiner Zustimmung und unter allgemeinen Gelaechter, auf die alte Dame zupurzelt, deren Gesicht sich nun in Lachfalten legt mit Frohsinn in den Augen. Der Clown kommt vor ihr zu stehen und verbeugt sich in uebertriebener Pose, wie es Clowns eben so tun.

Clown: „Liebe Schwester, ich fuehle mich geehrt, meine Siblinge zu vertreten. Willst du mit mir nicht den Tanz unserer Vereinigung tanzen? Ich mag dir zwar auf die Zehen steigen, mit meinen grossen Schuhen, aber das soll uns nicht an unserer Freude hindern, nicht wahr, denn du kannst, dank deiner Umsicht, mein unbedaechtigtes Treiben ganz gewiss davor bewahren, dir weh zu tun oder anderen Schaden anzurichten. Ich bin sogar sicher, dass du mir meinen Schabernack verzeihst, denn wahrlich, was waere das Leben ohne Lachen! Also komm mit mir, lass uns tanzen, zur Feier dieses Tages!“

Und damit nimmt der Clown die alte Dame zum Tanz. Und was fuer ein Pas de Deux das ist, voll Humor und Akrobatik, die alte Dame viel wendiger, als sie urspruenglich vermuten liess. Femina muss manchmal laut auflachen, und sie sieht Baba’s Gesicht, sein Entzuecken und froehliches Lachen.

Schliesslich stellt sich das neue Paar in Reihe mit den anderen, sich innigst umarmend, Wange an Wange, beide in seliger Harmonie.

Nun ist nur mehr die Pflicht und die Unzufriedenheit uebrig, und natuerlich auch noch die beiden Koenige, falls diese sich am Tanz beteiligen sollten. Ein Moment der Stille kommt auf, als zoegerten die Verbliebenen, den Schritt nach vor zu tun. Die Pflicht macht dem ein Ende. Sie ist von kraeftiger Natur, in Overalls und festen Arbeitsschuhen, mit einem Guertel voll Werkzeug und nuetzlichen Utensilien. Die Maehne von Haar ist im Zopf nach hinten geflochten, wie das mit Arbeitspferden  manchmal getan wird, so dass das Haar nicht in ihre Augen faellt. Sie traegt weder Schmuck noch Make-up, aber ihr Gesicht hat natuerlichen Charakter mit klarem Blick und scharfer Nase, einem Vollmund, streng zusammengepresst und einem kraeftigen Kinn, auf einem kraeftigen Nacken. 

Pflicht: „Es scheint, als haette mir die Verantwortung den passenden Partner abspenstig gemacht, aber dem ist nicht so. Zwar ist die Kombination Pflicht und Vergnuegen perfekt, doch gerade das wuerde mich inaktivieren, anstatt zu mobiliesieren, grad so wie eine Kaulquappe nie zum Frosch wird, wenn sie sich in optimalsten Bedingungen aufhaelt. Meine liebe Schwester Unzufriedenheit, du bist es, die ich brauche. Du bist mein sensitiver Fuehler, mein Detektor, der mich wissen laesst, ob ich meine Aufgabe im richtigen Sinn erfuelle. Meine Arbeit kann nicht immer nur Vergnuegen sein, das kommt ohnehin, wenn die Arbeit getan ist. Du wirst mich jedoch nie ueber unvollkommene Loesungen hinwegsehen lassen. Du wirst verhindern, mich auf meinen Lorbeeren zu lange ausruhen zu wollen. Mit deiner Hilfe werden alle unsere Werke zu Kunstwerken, immer das Beste, was auch immer wir tun. Ich werde dir jedoch Grenzen setzen muessen, um dich das Verweilen zu lehren und mir die verdiente Rast zu geben. Aber sag, bin ich auch deine Wahl?“

Die Unzufriedenheit loest sich aus ihrer Gruppe, die nun nur mehr aus den Taenzern des Vergnuegens besteht. Sie ist eine hagere Gestalt, hohlwangig mit duennen langen Gliedern und beringten Knochenfingern. Bei jedem Schritt, den sie macht, hoert man ein Klingen und Klirren, was wohl von all den Silberketten kommt und all dem Schmuck, mit dem sie beladen ist.

Unzufriedenheit: „Ja liebe Schwester, du bist auch meine Wahl. Ohne dich bin ich uersaettlich. Ich haeufe Dinge an, ohne dass ich sie brauche. Ich huepfe von Freundschaft zu Freundschaft, weil ich sie nicht pflege, verderbe allen die Freude, weil mich nichts und niemand fuer lange interessiert. Nur du kannst mir helfen, mich von meinem kuemmerlichen ‚Ich‘ zu befreien, das trotz all der Fuelle am Verhungern ist. Du musst mir auch Altruismus lehren, um mich zu naehren und nuetzlich zu machen. Zusammen koennen wir nicht nur Kunstwerke schaffen, wir koennen sogar, mit deinem Fleiss und meiner Energie, die Welt vom Hunger befreien und ein Paradies fuer alles Leben schaffen. Komm, liebe Schwester, tanz mit mir, zur Feier dieses Tages.“

Der Tanz der beiden hat etwas Ruehrendes an sich. Sie sind nicht das attracktivste Paar, aber im Tanz zeigen sie ihre Staerke und ihre Bereitschaft, das beste aus sich und dem anderen zu machen. Die Unzufriedenheit entledigt sich bis auf wenige Stuecke ihres Schmucks, indem sie der Pflicht einige Ketten umhaengt und den Rest in deren Werkzeugtasche steckt. Sie gewinnt damit an Leichtigkeit mit der Sprungkraft einer Gazelle, waehrend die Pflicht unter neuem Gewicht der Kraft des Arbeitspferdes die Ehre gibt. Der Pas de Deux endet in einem crescendo solider Akrobatik, die jeden Kritiker begeistern wuerde. Danach fuellen sie die letzte Luecke in der Paarenreihe. Wange an Wange, ineinander verschlungen, Augen geschlossen und Gesichter ernst, sie sind ein gediegenes Paar in Harmonie miteinander.

Weiss erhebt sich aus seinem Stuhl, geht um den kleinen Tisch, nimmt hinter Schwarz Stellung. Er legt seine Haende auf dessen Schultern und seine Wange auf dessen glaenzendes Haar.

Die Buehne aendert sich. Alle Figuren verlassen den Raum. Eine weisse Wand senkt sich von oben auf den hinteren Rand des Schachfeldes, was die Buehne ein wenig verkleinert und das grosse Tor eliminiert.

Weiss: „Komm, mein geliebter Bruder! Wir sind eins! Es gibt nicht mehr Schwarz oder Weiss, nur mehr Schwarz   u  n  d   Weiss. Ich bin du und du bist ich.“

Schwarz folgt seiner Aufforderung. Sie begeben sich in die Mitte der Buehne, waehrendessen Tisch und Stuehle in den Boden versinken.

Schwarz: „Bruder, bevor wir tanzen, lass mich mein Gestaendnis machen, denn auch wenn ich mit allem, was ich gesagt habe, der Wahrheit den Weg geoeffnet habe, es ist nicht alles, was dazu zu sagen ist. Ich vergebe dir deine Schuld, denn du hast recht, ich bin kein einfacher Lebensgefaehrte. Aber ohne dich bin ich die Hoelle, wo es nichts als Qualen gibt. Wir brauchen einander, um uns gegenseitig zu kontrollieren, nur dann kann die Welt gedeihen, an deren Schoepfung wir beteiligt waren, und zum Wohle aller Welten, die noch im Entstehen sind. Also, lass uns nun tanzen, zur Feier unserer Reunion.“  

Der Pas de Deux der beiden ist ein Hoehepunkt und eine Meisterleistung. Zuerst tanzen sie einzeln, doch immer in Beziehung zueinander. Ihre Bewegungen malen Bilder, erzaehlen eine Geschichte. Ihren Koerpern fehlt die staehlerne Haerte, die sie zuvor im Kampf gezeigt hatten. Obwohl nach wie vor voll Kraft und Staerke, jetzt sie sind biegsam und druecken Gefuehle aus. Zunehmend tanzen sie miteinander, zunehmend steigert sich der Ausdruck ihrer Gefuehle, intensiv, hingebungsvoll, ja zaertlich und liebkosend. Ihr Tanz verlangsamt sich, wird zeitlupenhaft. Weiss haelt Schwarz von rueckwaerts umfangen, Wange an Wange, die Haende uebereinander, so sinken mit einem Bein im Schritt nach vorne auf‘s  Knie. Die Koerper beugen sich leicht, ihre Koepfe senken sich und so verbleiben sie, regungslos. 

Alle Lichter verloeschen, jedoch auf die weisse Wand im Hintergrund wird ein riesiges Gesicht projeziert, mit einem Mund, gross rot und rund. Femina erkennt, dass es ihr Gesicht ist. Der Kegel eines Scheinwerferlichtes wirft sein Licht an die Stelle, wo  die beiden Maenner gekniet hatten. Aber sie sind fort. Stattdessen erhebt sich vom Boden eine einzelne Gestalt. Sie ist halb weiss, halb schwarz, von Kopf bis Fuss, doch nicht in geraden Haelften, sondern in einer Art Spirale, und das Gesicht hinter einer schwarz-weissen Maske. Die Figur reckt und streckt sich, als erwache sie aus tiefem Schlaf und wie um ihr Erwachen zu erproben, wirbelt sie in grossen Spruengen und Pirouetten ueber die Buehne, was einen interessanten Effekt ergibt, dank der schwarz-weissen Farbe. Schliesslich macht sie vor dem grossen Mund halt. Dieser oeffnet sich weit und einladend zu einem grosses Tor, die weissen Zaehne zwei Gatter, die lautlos auseinander gleiten. Schwarz-Weiss springt ueber die Lippenschwelle. Die grossen roten Lippen schliessen sich hinter ihm und verziehen sich zu einem Laecheln. Der blaue Vorhang faellt. Aber mit ihm verloescht jegliches Licht.

Femina sitzt ploetzlich in voelliger Dunkelheit, schwarz und leer, koennte man meinen, denn Baba ist doch ganz sicher noch hier, so glaubt sie jedenfalls. Aber nichts ruehrt sich, kein Hauch der Luft, keine Vibrationen. Das einzige Licht, das nun scheint, ist in ihr. Sie fuehlt es leuchten, sie fuehlt sich leuchten, doch ist der Schein nicht stark genug, um das Schwarz, das sie umgibt, auszuleuchten. Sie ist also allein, wiederum. Wie brutal die Wahrheit sein kann! Aber irgendwo in diesem schwarzen Nichts gibt es ganz sicher noch andere in sich verborgene Lichter, Baba zum einen. Dass sie ihn jetzt weder hoeren, sehen, noch fuehlen kann, heisst nicht, dass er nicht existiert und so ist das ganz gewiss auch mit anderen Lichtern. 

Sie zieht ihre Beine hoch, umfasst sie mit beiden Armen und legt ihren Kopf auf die Knie. Ihre Aufmerksamkeit wendet sich nach innen, wo es Licht gibt. Sie fuehlt sich ploetzlich nicht mehr ganz so alleine. Im Gegenteil! Mag es sein,  s i e  hat  Schwarz-Weiss verschluckt? Moeglicherweise, denn sie fuehlt sich ploetzlich aufbrechen wie ein Samenkorn, mit sich entfaltenden Trieben, die sich vermehren und ausbreiten und sie zu einer wunderschoenen intensiv leuchtenden Blume transformieren. Das Schwarz rund um sie macht sie nur noch leuchtender, noch intensiver. Es ist alles gut so wie es ist. ‚Schwarze Leere‘, - Gewalt und Geliebte.

Die Dunkelheit weicht. Dort wo der blaue Vorhang gehangen hat, ist nun blauer Dunst. Und aus diesem Dunst steigen schemenhafte Gebilde auf, schweben aus dem naechtlichen Blau dahinter, um in den vorliegenden Schwaden zusammen zu fliessen und Gestalt anzunehmen. Chromglitzernde Lichter formen sich, bilden Lenkstangen, Scheinwerfer und Auspuffrohre gleich Trompeten. Schlanke Koerper aus schwarzgliemenden Metall fassen vom Hinterrad an die vordere Achse und tragen Saettel aus feinem Leder. Es sind zwei Motorraeder, die aus dem Nichts auftauchen. Es ist ganz still, wie im ersten Licht einer Daemmerung. Femina sitzt nur wenige Meter von den Raedern entfernt. Ihre Augen streifen ueber die Maschinen wie Finger, die rassige Kurven und elegante Linien lieben und fuehlen wollen. 

Dann wird sie zweier Gestalten gewahr, die auf grasigem Boden nahe den Motorraedern rasten, halb sitzend, halb liegend, mit den Helmen an ihrer Seite, und ihren schwarzen Lederjacken halb offen. Zwei junge Maenner sehen sie an. Es sind schoene Gesichter, eines blond bebaertet, das andere braun, die langen Haare zerzaust, wobei der Blonde seine glatten Straehnen zum Ponytail im Nacken zusammengefasst hat, der Braune jedoch seine lockige Pracht frei bis ueber die Schulter fallen laesst. Ihre Jeans stecken in robusten Stiefeln, aber ihre Lederhandschuhe haben sie abgelegt, liegen fein saeuberlich neben den Helmen. Der Braungelockte richtet sich auf und streckt ihr seine offene Hand entgegen: ‚Easy Rider.‘

Femina verharrt regungslos, doch in ihrem Kopf hoert sie die Sekunden ticken, und jeder Atemzug ist kostbar, denn sie weiss nicht, wie lange sie atmen wird.

Sie steht auf, nimmt die ausgestreckte Hand. Der junge Mann fuehr die ihre an seine Lippen.  E a s y  R i d e r !

Sie schwingen sich auf die Saettel. Dumpf und kraftvoll toenen die Maschinen. Ihr Vibrieren breitet sich aus in Metall, Blutgefaessen und Nervenzellen. Und der Ritt beginnt.

Femina spuert den Wind in ihrem Haar. Sie fliegen dahin ueber Ebenen mit sonnengebleichtem Gras, ueber Huegel und Busch. Immer weiter entfernt sie sich von ihrem Wartezimmer. Es schmilzt zusammen zu einem dunklen kleinen Ball. Er hat sein Gewicht, aber ist leicht genug zu fassen, um ihn mit sich zu tragen.

Das Raetsel des Hauses ist ungeloest, die Stahltuere jedoch kein Hindernis mehr. Sie kennt die Loesung, doch sie wird sie sie nicht selber aufmachen, schon garnicht jetzt. Sie wird aber auch nicht laenger und unnoetiger Weise darauf warten, bis sie sich von selber auftut. Nicht jetzt jedenfalls. 

Die Maschinen haben auf dem Asphalt einer Strasse aufgesetzt. Sie folgen ihrem Band, das bis zum Horizont reicht und darueber hinaus. Das Meer hat sich an die Strasse herangeschoben. Es glitzert in tausenden von Diamanten. Sie gleiten vorbei an kleinen besiedelten Orten mit niedlichen Holzhaeusern, deren Gaerten und Bewohnern, und entschwinden in die Weite des Landes. Die Sonne wird rot und golden. Die Erde wird still. Nur das Droehnen der Motoren schwingt wohltoenend in den Ohren. Easy Rider.

 

 

 

 

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Gast Samstag, 21 Dezember 2024